1.-Mai-Krawall: Uhrwerk Orange

Nr. 18 –

Homeboys drehen durch, die Wut läuft auf Stöckelschuhen, die Polizei verhaftet AnwohnerInnen. War das ein Videogame oder der Ansatz sozialer Unruhen? Beides? Wie dem Strudel ritualisierter Gewalt entkommen? Ein Bericht aus dem Zürcher Chaos.

Ich stehe plötzlich mitten im Krawall. Tränengas im Gesicht. Gummischrot im Rücken. Ein Stein trifft mich am Arm. «Erlebnistouristen» sind jene nicht, die da Steine werfen. Hier sind Jungs und Männer unterwegs (und auch Frauen, auch solche in Trägershirts und Stöckelschuhen,) die Wut und Hass zeigen, die mit «Erlebnis» nicht viel zu tun haben. Die ErlebnistouristInnen gibt es tatsächlich, die gab es schon vor zehn Jahren, als man nach dem 1. Mai noch unterteilen konnte in die Bösen («Schwarzer Block») und die Guten (der Rest). Leute, die man vom Sehen kennt, stadtbekannte Kriminelle, Messerstecher, Schläger, sind auch dabei. Der Krawall ist unten angekommen. Diese Kids lesen nicht Karl Marx, sondern das «Hustler»-Magazin. Das Tramhäuschen wird am 1. Mai 2007 nicht zertrümmert, weil es ein Bollwerk des Faschismus ist. Sondern einfach, weil es da steht.

Und wer beruhigt die Homeboys mit den Skibrillen (die Skibrillen sollen gegen die Gummigeschosse schützen)? Den Homeboy mit der Eisenstange? Ich kenne einen von ihnen, ich weiss, dass man besser nicht mit ihnen verhandelt, wenn es um die Gewaltfrage geht. Die rennen drauflos und schmeissen, was sie finden, auf die Polizei, auf die «Hurensöhne», «Wir bringen euch um». Die Kids, die das ganze Jahr unter die Räder kommen, zahlen es den Bullen heim. Oder sie kommen gar nicht unter die Räder und zahlen es ihnen trotzdem heim. Immerhin richtet sich die Gewalt nach wie vor ausschliesslich gegen Sachen und nicht gegen Leib und Leben. Es geht gegen alles. Ein Riesendurcheinander. Die PressefotografInnen warten mit Helmen, bis endlich das erste Auto brennt.

Am 1. Mai wurden dieses Jahr nicht nur eine Bank und zwei Autos zerstört, sondern auch das Schaufenster eines kleinen Plattenladens im Kreis 4, einer der besten Plattenläden in der Stadt, dessen Besitzer als Kleinunternehmer mit der ganzen grosskapitalistischen Scheisse nichts zu tun hat, im Gegensatz zum einen oder anderen, der sich am Krawall beteiligte. Mancher sah in seinem properen Outfit aus, als würde er sich bald einen Audi leasen. Wer wissen will, wer die waren, die das Sozialamt demolierten, sollte am Samstagabend an den Treffpunkt des Zürcher Hauptbahnhofes gehen. Es war, als hätte sich die dortige unübersichtliche Szene für einen gewalttätigen Nachmittag in den Kreis 4 verschoben: Skater, Punks, Homies, Popper in Gucci und Gucci-Fälschungen, ihre Freundinnen in Stöckelschuhen, rechte Techno-Glatzen, HC-Lugano-Hooligans, FCZ-Ultras, Normalos. Erstaunlich ist, wie viele Menschen sich offenbar ganzjährlich mit ihrem Frust abfinden und ihn dann in einem eng gesteckten Rahmen rauslassen, jenem am 1. Mai im Kreis 4.

Bei der zuvor stattfindenden und vom Revolutionären Aufbau organisierten Nachdemo geschah derweil etwas, was es lange nicht mehr gab: Sie lief. Und zwar eine Stunde. Und es blieb ruhig. Erst als die Demo beendet war, knallte es.

Mehr noch als Randalierer habe es Schaulustige gehabt, stand am Tag danach in den Zeitungen. Die Diskussion darum ist bezeichnend dafür, dass nicht mehr klar ist, wer ausser den Autonomen an der Nachdemo teilnimmt. Es könnte deine Schwester sein, Bruder, die da in Versace-Fälschungen die Scheibe des Sozialamtes einschlägt. Der Frust scheint individualisiert, jeder lässt ihn raus, man trifft sich und schlägt alles kurz und klein, es ist wie beim Fussball: Was hat der heutige Fussballkrawall mit dem klassischen Hooliganismus zu tun, oder was hat der Fussballkrawall mit Fussball zu tun? Und trotzdem ist er Realität, und keiner weiss genau, wie man darauf reagieren soll. Macht man sich lächerlich, wenn man diese Randale als Ausdruck sozialer Unzufriedenheit wertet? Oder trifft es diese Interpretation zumindest teilweise genau?

Die Ritualisierung und die Ziellosigkeit der Zürcher 1.-Mai-Randale sorgt selbst bei manchem alten Autonomen für Kopfschütteln. Denn sie nährt den Verdacht, dass es eben nicht Wut ist, die da explodiert, sondern dass es um blosse Action geht. Wie ein Videogame, weisst du, nur echt. Alles ist vereinnahmt. MTV adaptiert es, auch den Krawall, und so gesehen ist der Kapitalismus dann eben tatsächlich schuld an dieser Entwicklung, und somit hat der Krawall eben doch einen Hintergrund und passiert nicht einfach so, und ich stehe bereits als 27-Jähriger einer Jugend gegenüber, die kaum noch eine Identität zu haben scheint, keine Abgrenzung, alles ist möglich, rechts und links und beides zusammen, Menschen tauschen Ideologien wie Fusssballabziehbildchen. Unter jenen, die das Sozialamt zerstörten, war auch eine Gruppe von rechtsgerichteten Techno-Glatzen. Ich sprach sie an. Sie sagten: «Wir sind nicht links. Aber wir sind hier, weil wir die Bullen hassen.»

Es ist, wie wenn man aus Frust oder Wut oder Langeweile das eigene Zimmer zerstört. In Frankreich zündeten sie bei den sozialen Unruhen ihre eigenen Schulen an. Der Krawall folgt keiner Logik, keiner «gezielten Militanz», welche Andrea Stauffacher vom Revolutionären Aufbau letzte Woche im WOZ-Interview verteidigt hat. Wenn ich die Polizei wäre, die Politiker, wenn ich uns wäre, wir, die WOZ-LeserInnen, würde ich mich dringend fragen, ob dieses Phänomen zielloser Gewalt nun beruhigend ist oder beunruhigend, ob wir in der Schweiz in zehn Jahren nicht auch von sozialen Unruhen sprechen müssen und ob wir uns einen Gefallen tun, wenn wir nach dem 1. Mai nur darüber diskutieren, warum so viele Gaffer da waren, statt darüber, was jetzt kommen muss, wie man aus dem Strudel der ritualisierten 1.-Mai-Gewalt und der Gewalt überhaupt herausfindet.

Im Kasernenareal hat man übrigens von all dem, was da sozusagen vor der Haustür geschah, nichts mitbekommen. Es war ein gutes 1.-Mai-Fest, ein schönes Fest, es war ein friedlicher Tag. Es war durchaus auch ein überaus gewalttätiger Tag: Drei Stunden bevor die Nachdemo startete, geriet ich in eine Prügelei an der Langstrasse. Hier ging es nicht darum, Sachen zu zerstören, sondern Menschen zu verletzen oder gar zu töten. Der Gewaltausbruch war verstörend massiv. Dreissig Tamilen stürmten an mir vorbei mit Eisenstangen und Holzstöcken und prügelten wild auf eine gegnerische Gruppe ein. Zurück blieb ein Mann in einer Blutlache. Er wurde niedergeschlagen mit einer Holzlatte, die an der Demo als Transparenthalter gedient hatte. Später wieder Gewalt: Da, ein Nazi! Wamm. Ein Vermummter sagte zu mir: «Egal wie gewalttätig du bist, das System ist gewalttätiger. Sie nehmen dir deine Identität und waschen dich rein und machen dich fertig. Du gehst in den Knast als knallharter Typ und kommst raus als Jogurt.» Es scheint, als gehe es nicht mehr darum, irgendetwas zu ändern.

Nicht geändert hat sich auf jeden Fall die Berichterstattung: 1916 zum Beispiel demonstrierten während des Ersten Weltkriegs Zürcher Jungsozialisten gegen die Armee. Die NZZ schrieb von hutlosen Burschen und halbreifen Mädchen, denen das Verständnis für das Demonstrieren fehle, die blind wüteten und «die den schönen Tag nutzen zum Krawall». Nach dem 1. Mai 2007 steht in der NZZ genau dasselbe.

Folgende, vielleicht für das Durcheinander bezeichnende Geschichte, ereignete sich auch am 1. Mai: Ein Quartierbewohner stellt sich vor seine Kunstgalerie, um diese zu schützen, damit Randalierer nicht die Scheiben zerstören. Die Polizei stört sich ob seiner Präsenz an diesem Ort, stürmt seine Galerie, prügelt ihn, als wäre er ein Verbrecher, und verhaftet ihn. Und dies vor einem Dutzend Zeugen. Ein Polizist sagt zu mir: «Ich weiss nicht, was genau los war. Aber die Polizei darf alles.»

Wenn die Sache irre ist, ist es auch die Polizei.