Tanger: Das Glück des Fischers

Nr. 23 –

Die alte weisse Stadt in Marokko erlebt einen Aufschwung. Ein neuer Hafen wird gebaut, Investitionen fliessen in die Infrastruktur der Stadt - und immer noch halten sich parallel zur modernen Zivilisation ein magisches und ein mythisches Weltbild.

Tanger, die Stadt an der nordwestlichsten Spitze Marokkos, wo das Mittelmeer und der Atlantik zusammenfliessen. Tanger ist die Feriendestination manch einer vermögenden marokkanischen Familie aus dem Süden, die die frische Meeresbrise der lähmenden Sommerhitze im Landesinnern vorzieht. Doch Tanger ist primär das Tor zu Afrika: die Stadt des Transfers von und nach Europa; allein in diesem Sommer, der alljährlichen Stosszeit, wird mit über 2,7 Millionen Fahrzeugen auf den Fähren gerechnet.

Zur längst fälligen Linderung dieser Verkehrsplage für alle EinwohnerInnen und zur Optimierung des Handelsverkehrs entsteht jetzt östlich von Tanger auf dem Weg nach Ceuta ein gigantischer neuer Hafen. Das Milliardenprojekt soll ab 2007 direkt und indirekt über 100 000 Arbeitsplätze schaffen. Der alte Hafen von Tanger mit seiner malerischen langen Mole wird inskünftig primär touristischen Zwecken dienen und die Verkehrslawine zusammen mit dem Handelsverkehr auf die belastbarere neue Anlage umgewälzt.

Im Schatten der allsommerlich anwachsenden temporären Völkerwanderung läuft in und um Tanger eine andere Wanderbewegung, die klandestine. Tanger zieht viele Menschen aus dem Süden an, die Europa erreichen wollen, denn die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla liegen nahe, und die Strasse von Gibraltar ist lediglich vierzehn Kilometer breit. In den letzten zehn Jahren sind zwischen 4500 und 6000 Menschen beim Versuch ums Leben gekommen, die Meeresstrasse illegal zu überqueren, todesmutige, verzweifelte, hoffnungsbeseelte Sans-Papiers, so genannte Harragas. Im letzten Jahr rückten die Vorfälle an der Grenze zu Melilla die katastrophalen Lebensbedingungen der oft schwarzafrikanischen Flüchtlinge, die in Camps in den Hügeln um Tanger hausen, jäh ins mediale Rampenlicht. Im Stadtzentrum von Tanger zeigen sich Sans-Papiers kaum. Doch manchmal tauchen sie am Rand der Suqs auf, um in den grossen Abfalleimern zu stochern, vor Dreck starrende Gestalten, oft unbeschuht; oder man erblickt durch die Stadt streifende jugendliche Klebstoffschnüffler, zu zweit, zu dritt, abgemagert bis auf die Knochen; oder man wird von einer heimatlosen Schwarzen mit umgegürtetem Säugling um ein paar Dirham angegangen. Auf jeden Fall ist die Dunkelziffer der Sans-Papiers hoch, was dazu beiträgt, dass es schwer ist zu sagen, wie viele EinwohnerInnen Tanger tatsächlich beherbergt; die Angaben schwanken zwischen 500 000 und einer Million.

Der König der Armen

Tanger, bereits während der Weltkriege eine Hochburg für Spionage-Affären, spielt auch eine Rolle im internationalen Terrorismus. Spuren der Al-Kaida-Attentate in Madrid vom 11. März 2004, die 191 Menschen das Leben raubten, führten nach Tanger und Tetouan. Dorther stammten mehrere der am Anschlag beteiligten Personen. Auch Marokko selbst ist am 16. Mai 2003 in Casablanca zum Ziel eines Al-Kaida-Anschlags geworden, bei dem 44 Menschen vorwiegend marokkanischer Herkunft umkamen. Und dies nicht zufällig, denn das Land gehört zu den liberaleren arabischen Staaten und widersetzt sich hartnäckig den Übergriffen des islamistischen Fundamentalismus.

König Mohammed VI., seit 1999 im Amt, im Volksmund auch «M6» oder «le roi des pauvres» (der König der Armen) genannt, ist gleichzeitig staatliches und religiöses Oberhaupt des Landes; ein kluger Schachzug zur Wahrung der Macht in einem islamischen Land. Das Regime verfolgt die Anstrengungen der Extremisten mit harter Hand. Terroristische Pläne durchkreuzt der marokkanische Geheimdienst immer wieder erfolgreich. Private Koranschulen und Moscheen wurden nach dem Anschlag in Casablanca landesweit geschlossen, um die Vermittlung des Islam staatlich zu regulieren. Der Streit um die Mohammed-Karikaturen warf in Marokko kaum Wogen. Der König pflegt gute Beziehungen zu den USA, ganz im Stil seiner alawitischen Vorfahren, die 1777 unter den ersten Regierungsvertretern weltweit die USA als Nation anerkannten.

Was die Stellung der Frau in der marokkanischen Gesellschaft betrifft, so löste der heutige Herrscher vor seiner Hochzeit mit der bürgerlichen Lalla Selma aus Fes im Jahr 2002 - der ersten Königin, deren Gesicht das Land erblicken durfte! - den königlichen Harem auf, und unter seiner Regierung wurden die Rechte der Frau europäischen Massstäben angeglichen. Zudem herrscht jetzt in Marokko eine für arabische Staaten grosse Pressefreiheit; zensuriert wird ein Medium lediglich, wenn es das Königshaus verunglimpft, die Religion beleidigt oder die Frage der Westsahara nicht regierungskonform behandelt. Auch die Filmzensur ist weniger streng geworden. Das demonstriert der neue Film «MaRock» von Laila Marrakchi. In ihm bricht die dreissigjährige Regisseurin religiöse und gesellschaftliche Tabus, wenn sie die Liebe zwischen einer Muslima und einem Juden schildert, auf die Drogenprobleme der Jugend und den kaschierten Umgang mit Alkohol fokussiert, die hohle Arroganz der bourgeoisen Oberschicht entlarvt und den Finger auf die Enge eines überspannten, im Grunde menschenfeindlichen Islamismus legt.

Der eingangs erwähnte neue Hafen ist nicht das einzige Projekt, das Mohammed VI. für Tanger vorgesehen hat. Sein Vater Hassan II. schätzte die Stadt nicht besonders; er liess «die Schöne des Nordens» verkommen, denn er bevorzugte die traditionellen Königsstädte; und da die königliche Kontrolle fehlte, konnten öffentliche Gelder leicht in den Taschen korrupter Beamter verschwinden. Doch der neue König residiert jeden Sommer hier in seinem Palast auf dem Alten Berg. Das bedeutet, dass ein ganzer Hof inklusive Armee zu Besuch nach Tanger kommt und mit ihm Potentaten aus aller Welt samt Entourage, Regierungsvertreter und Investoren. Auch das bringt Arbeit und macht die Verbesserung der städtischen Infrastruktur notwendig. Dazu gehört, dass sich die Sicherheit seit den rüden achtziger und neunziger Jahren bedeutend erhöht hat. Tanger soll wie ein Phönix aus der Asche auferstehen. Zahlreiche alte Häuser werden renoviert, sukzessive sollen alle Plätze der Stadt neu gestaltet werden, derzeit ist der Grand Socco, der grosse Platz vor dem Eingang zur Medina, an der Reihe.

Zone des Vergessens

Vieles ist in Tanger im Auf- und Umbruch, auch kulturell. Die Stadt wird wie Marrakesch, Fes, Casablanca oder Rabat voll in die Fünfzigjahr-Feiern zur marokkanischen Unabhängigkeit (1956, unter Mohammed V.) einbezogen. Das Theater Cervantes soll bald wieder wie in alten Glanzzeiten spielen. Im ehemaligen Cinema Rif am Grand Socco entsteht eine Cinemathek mit internationaler Anziehungskraft. Khalid Amine von der Universität Tetouan organisiert mit seinem Stab von MitarbeiterInnen weiterhin die internationale Tanger-Konferenz; das Thema für 2007 lautet «Picturing Tangier» und wird wieder Spezialisten aus aller Welt, aus dem Maghreb und dem Mashrek, aus Europa und den USA zusammenführen. Amine hat eine dezidierte Haltung zur Kulturgeschichte Tangers: «Wir sollten uns nicht länger nur in Nostalgie bewegen, sondern die kulturellen Möglichkeiten der Gegenwart nutzen.»

Die grossen Namen von Tanger, schillernde Zelebritäten, sind - hélas! - nicht mehr. So starb 1999 Paul Bowles, der Titan von Tanger, der über fünfzig Jahre lang in dieser Stadt lebte und wie kein anderer Exilautor das tangerine Dandytum mit grosser internationaler Ausstrahlung repräsentierte; 2003 starb Mohamed Choukri, die Stimme von Tanger, dessen schonungslose Autobiografie «Das nackte Brot» in Marokko jahrzehntelang verboten war und noch heute in der arabischen Welt Diskussionen auslöst. Seine Präsenz wäre heute von besonderer Wichtigkeit, denn Choukri setzte sich stets für die Freiheit des Individuums ein und kämpfte wortgewandt, aber unverblümt an gegen «die drei Schwerter, die den Menschen niederhalten: den Staat, die Religion und die Moral». Doch es gibt neue Stimmen in Tanger.

Die seit vielen Jahren in Tanger lebende marokkanische Schriftstellerin Souad Bahéchar, neben Ahmed Beroho und Lotfi Akalay eine überregional bekannte Autorin, charakterisierte in ihrem preisgekrönten Roman «Ni fleures ni couronnes» (2000, «Wüstenkind») das Flair der Stadt zur Zeit der Internationalen Zone (1923-1956) so: «En Europe c’était la guerre, ici c’était l’oubli.» (In Europa war Krieg, hier war das Vergessen.) Tanger als Zone des Vergessens einerseits, als merkwürdig legendenstiftende, urtümlich kreative Zone anderseits scheint von unauslöschlicher Anziehungskraft; das straft jene Stimmen Lügen, die behaupten, es gebe in Tanger keine interessanten Köpfe mehr.

Mohammed Mrabet lebt noch; der 72-jährige illiterate Erzähler stellte soeben seine neue Geschichtensammlung «Le poisson conteur» in der bereits von Samuel Beckett, Jean Genet und Tennessee Williams besuchten Buchhandlung Librairie des Colonnes am Boulevard Pasteur vor. Darin berichtet er unter anderem von seinem speziellen Fischerglück: Einmal, nach der Flut, habe er die wassergefüllten Mulden am Strand nach Fischen abgesucht, die den Weg nicht mehr ins offene Meer hinaus gefunden hätten; da habe er einen grossen Fisch gefunden, mit dem er auf dem Suq viel Geld hätte machen können; da habe der Fisch zu ihm gesagt: «Wenn du mich nicht verkaufst, sondern wieder frei lässt, dann werde ich, wann immer du willst, hierher kommen und dir unerhörte Geschichten erzählen»; da habe er den Fisch ins Meer zurückgebracht, und seither erzähle dieser Fisch ihm die Geschichten, die er seinen ZuhörerInnen beziehungsweise seinen Transkriptoren, deren erster ja Paul Bowles war, nur weitererzähle …

«Arabien Remixed»

Wer Marokko besucht, erfährt bald, dass hier das mythische und das magische Weltbild weiterleben beziehungsweise unberührt von den Elementen der modernen Zivilisation, neben ihr, weiterexistieren; Koexistenz ist das Schlüsselwort, nicht Verwischung kultureller Unterschiede. Und das gilt insbesondere für das kosmopolitische Tanger: «die Ingredienzien alle nebeneinander, ohne sich je zu vermischen, wie geologische Schichten, die sich in Jahrhunderten ablagerten, wie Flüssigkeiten von verschiedener Dichte, die im Probierglas des Wissenschaftlers oder Gelehrten eine auf der andern schwimmen, vereint zwar, aber nicht vermischt», wie Juan Goytisolo in seinem in Tanger angesiedelten Bewusstseinsstrom-Roman «Revindicación del Conde don Julián» («Rückforderung des Conde don Julián») 1970 geschrieben hatte.

Der brandneue Roman «Partir» von Tahar Ben Jelloun thematisiert vor dem Hintergrund von Tanger die aktuelle Emigrationsproblematik; der in Paris lebende und aus Fes stammende Träger des Prix Goncourt absolvierte in Tanger die Schulen, übersetzte Choukris «Nacktes Brot» ins Französische und kommt oft hierher. Und Bernard-Henri Lévy hat sich auf dem Marshan, gleich neben dem 1921 eröffneten, terrassierten Café Hafa, eine schicke Villa mit Blick aufs Meer gekauft. Und auf der anderen Seite des Marshans, gleich hinter dem Friedhof, auf dem Choukri trotz allem, was er geschrieben hat, mit Allahs Segen, aber ohne jeden speziellen Vermerk - streng nach muslimischem Ritual - begraben liegt, wohnt Alfred Hackensberger, der deutsche Journalist, Biograf des Hipster-Stammvaters Herbert Huncke und Schriftsteller. Sein Buch «Arabien Remixed» erscheint demnächst im Heinz-Wohlers-Verlag. Darin dokumentiert der Text «Zwischen Teufel und hellblauem Meer» Hackensbergers Heimweh nach Tanger während seines zweijährigen Aufenthalts in Beirut; hier mag abschliessend ein Auszug daraus die typisch tangerine Atmosphäre inspirierender Libertinage beschwören:

Sehne mich ins Eldorado zu gegrillten Gambas

zum überfüllten Boulevard am Abend

wo sich auch Frauen mit Kopftuch einen Liebhaber suchen

selbst zurück zu meiner giftspeienden, spindeldürren Nachbarin

den Aissaouis, die mit Korangesängen in Trance versetzen

zu Abdillah und den brennenden Twin Towers auf seinem Telefondisplay

zu Hassan im Bakal und seinen Lebensweisheiten

zu meinem Friseur, zu meinem Schuster, meinem Schneider

zu Deans Bar, Café de Paris, Café de la poste, Café Hafa

ins Restaurant Ritz, wo Choukri links neben dem Eingang sass

nicht zu vergessen das Blinzeln der betrunkenen Männer

die Offerten der schlendernden Frauen

die Apotheker, die nie nach einem Rezept fragen


Florian Vetsch ist Übersetzer, Herausgeber, Essayist und Lyriker. Zusammen mit Boris Kerenski hat er 2004 «Tanger Telegramm. Reise durch die Literaturen einer legendären marokkanischen Stadt» herausgegeben (Bilgerverlag. Zürich 2004. 351 Seiten. 48 Franken).