Reformpädagogik: «Auch die Uni ist eine Sonderschule»

Nr. 45 –

Normal ist, dass geistig behinderte Kinder in die Sonderschule kommen. Doch der Behindertenpädagoge Georg Feuser plädiert für die Aufhebung eines in «Behinderte» und «Nichtbehinderte» aufgeteilten Schulsystems

WOZ: Herr Feuser, wie definieren Sie «geistig behindert»?

Georg Feuser: Geistig Behinderte gibt es nicht. Natürlich gibt es Menschen, die nur schwer lernen können und die beeinträchtigt sind. Doch «geistige Behinderung» ist eine soziale Konstruktion, die mit dem einzelnen Menschen nichts zu tun hat. Dieser Begriff hat wissenschaftlich gesehen keine Existenzberechtigung, man müsste ihn abschaffen. Er signalisiert das, was man auf keinen Fall selber sein möchte, wovor man Angst hat. Indem ich mich vom Anderen distanziere, glaube ich die Gefahr, selber behindert zu werden, abgewendet zu haben. Das ist Angstabwehr: nicht so sein wollen, wie diese Menschen sind. Deshalb spediert man sie ins Grüne, damit sie uns nicht zu nahe kommen. Wir wissen aber, wie wenig es braucht, bis wir selber behindert sind, ein kleiner Schlaganfall reicht.

Sie sind Behindertenpädagoge. Warum brauchen Behinderte eine besondere Pädagogik?

Da zielen Sie ins Herz der Sache: Jedes Kind ist aufgrund seiner Entwicklung, seines Milieus, seiner Sprache und Kultur einmalig. Deshalb braucht jedes Kind eine besondere Pädagogik, die ihm erlaubt, sich für die Welt zu interessieren - auch die Kinder, die wir behindert nennen. Sie haben ihre spezifischen Bedingungen, die sie in unserer Welt entfalten wollen und auf die wir antworten müssen. Weil Menschen mit bestimmten Merkmalen, aufgrund deren wir sie als behindert bezeichnen, aus der allgemeinen Schule ausgegrenzt werden, haben wir eine Heil- und Sonderpädagogik.

Das schweizerische Invalidenversicherungsrecht spricht von einer geistigen Behinderung, wenn der Intelligenzquotient des Betreffenden kleiner als 75 ist. Wenn also ein Kind, das im Kindergarten Schwierigkeiten hat, bei einem Test weniger als 75 Punkte macht, wird es in die Sonderschule eingewiesen.

Das schweizerische Invalidenversicherungsrecht spricht von einer geis-tigen Behinderung, wenn der Intelligenzquotient des Betreffenden kleiner als 75 ist. Wenn also ein Kind, das im Kindergarten Schwierigkeiten hat, bei einem Test weniger als 75 Punkte macht, wird es in die Sonderschule eingewiesen.

Nein.

Wenn ich ein Kind, das Schwierigkeiten hat, vor einen Test setze, mache ich mir in einem bestimmten Moment ein Bild. Doch damit kann ich keine Aussage darüber machen, wie sich dieses Kind entwickeln wird und wie der Lehrer dieses Kind unterrichten soll. Nur wenn ich das einigermassen richtig einschätzen kann, finde ich Zugang zu diesem Kind.

Wie?

Dafür braucht es eine «Allgemeine Pädagogik», an der jedes Mädchen und jeder Junge teilhaben kann, auch wenn wir sie als behindert bezeichnen. Mit dieser Pädagogik habe ich in einer integrierten Klasse Schüler, die abstrakt-logisch denken, und behinderte Schüler, die konkret, die operational handelnd denken. Einer kennt die Fallgesetze von Newton, der andere muss zwanzigmal ausprobieren und erfahren, dass alles, was er hochhebt und loslässt, nach unten fällt. Doch in unserer Kultur gilt der mit der theoretischen Kenntnis der Newton’schen Gesetze mehr als der, der das Konkrete tut. Der geistig behinderte Mensch nimmt ein Buch und lässt es fallen, und vielleicht hilft ihm dabei ein Gymnasiast. Und beide stellen fest, dass ein Buch schneller auf dem Boden ist als eine Gänsefeder. Dann wiegen sie beide die Gegenstände, und dabei hilft der Gymnasiast dem Behinderten. Merken Sie etwas?

Noch nicht.

Die beiden arbeiten zusammen. Sie machen zusammen eine Fülle von Erfahrungen. Dann kommt der Lehrer und sagt, die Feder fällt genau so schnell wie das Buch; er denkt an die Verhältnisse im Vakuum oder im Weltraum. Die Schüler glauben das erst nicht. Jetzt sind sie bei Einstein und der Relativitätstheorie angelangt. Das alles ist mit einer Klasse machbar, in der auch geistig Behinderte sitzen. Ich darf aber keinen Frontalunterricht bestreiten, sondern muss einen handlungsexperimentellen Projektunterricht machen, in den alle Fächer eingebunden sind. Es geht nicht mehr um Wissensakkumulation, sondern um Erkenntnisgewinn.

Müsste dieses Konzept auch auf der Ebene der Hochschule verwirklicht werden?

Im Grunde ja. Wenn ich für den geistig Behinderten keine eigene Schule brauche, sondern ihn in eine allgemeine integrieren kann, brauche ich auch für den Gymnasiasten kein Gymnasium. Wir brauchen eine Schule für alle, eine Schule, die ein pädagogisches Konzept praktiziert, das die gesamte Spanne in der Entwicklung des Menschen abdeckt. Die Aufhebung der Sonderschule in einem allgemeinpädagogischen integrativen Konzept impliziert die Aufhebung des gegliederten Schulsystems. Wir haben ja keine normale Schule, wir haben nur Sonderschulen, auch die Universität ist eine Sonderschule, weil sie bestimmte Gruppen ausgrenzt.

Kinder mit dem Downsyndrom können nur schwer lesen und schreiben lernen.

Menschen mit Downsyndrom werden in der Regel als geistig behindert klassifiziert. Sie haben grössere Schwierigkeiten, sich Sprache anzueignen, als Kinder, die als nicht behindert gelten, eine Volksschule besuchen und dort lesen und schreiben lernen. Aber in Malaga hat ein Mensch mit Downsyndrom ein erziehungswissenschaftliches Studium mit einem Universitätsdiplom abgeschlossen. Er wurde von seinen Lehrern besonders unterstützt, hat aber nie eine Sonderinstitution besucht.

Das ist eine Ausnahme.

Nein, Kinder mit Downsyndrom können alles lernen, sie brauchen nur mehr Zeit. Weil Eltern und Lehrer oft zu wenig Geduld haben, bilden diese Kinder keinen Entwicklungsanreiz aus und können sich nicht bewähren. Erst so entstehen schwere Formen von Behinderung, etwa dass solche Kinder nicht sprechen lernen. Natürlich kann ein Kind mit Downsyndrom nur ans Gymnasium, wenn die Pädagogik nicht so bleibt, wie sie ist, sondern wenn sie individualisiert und dem jeweiligen Entwicklungsniveau angepasst wird. Da würde auch ein geistig Behinderter auf die Idee kommen, dass er schreiben will. Er spricht dann vielleicht auf das Diktiergerät. Schreiben ist nur eine Form der Gedächtnisbildung.

Würde die Integration geistig Behinderter nicht das allgemeine Leistungsniveau senken?

Integriertes Lernen führt nicht zu einem Sinken des Leistungsniveaus, auch nicht der so genannt Hochbegabten. Im Gegenteil: So lernen Kinder viel eher, wissenschaftlich zu arbeiten, also ein Problem zu identifizieren, was heute viele Studenten nicht mehr können. Die Wahrscheinlichkeit, dass über diese Unterrichtsform wissenschaftlich potente Menschen entstehen, ist sehr viel höher als im traditionellen System.

Sollen also alle Behinderten an die Universität?

Nein. Integration heisst nicht, dass jeder geistig Behinderte zwangsläufig an die Universität gehen muss. Integration ist keine Gleichschaltung. Ein geistig Behinderter kann auch in eine Werkstatt für Behinderte gehen, wenn er keine andere Arbeit findet. Ein Gymnasiast muss auch nicht zwangsläufig an die Universität, er kann auch Schreiner werden. Integration eröffnet individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, die um ein Vielfaches breiter sind als im klassischen Modell. Auch für Nichtbehinderte. Das ist der Kern.

Soll die Differenz zwischen geistig Behinderten und Nichtbehinderten verschwinden?

Überhaupt nicht! Wenn die Differenz zwischen Herrn Hafner und Herrn Feuser verschwände, gäbe es uns nicht mehr, oder wir gerieten in einen psychotischen Zustand. Der individuelle Differenzierungsgrad der Schüler nimmt zu. Die Menschen werden nicht gleicher, sondern bekommen die Chance, unterschiedlicher zu werden.

In Ihrer Utopie gelten also geistig Behinderte nicht mehr als defizitäre Menschen.

Genau, wir müssen unser Bild der geistigen Behinderung ändern. Nehmen wir nochmals einen Menschen mit Downsyndrom: Er hat ein Chromosom zu viel. Die Entwicklung dieses Menschen kompensiert seinen problematischen Ausgangspunkt, das heisst, durch die Art und Weise, die wir als geistig behindert bezeichnen, gelingt es ihm mit seiner Ausstattung, in unserer Welt zu leben. Wir sehen also einen Menschen nicht mehr defizitär, sondern unter seinen Bedingungen als kompetent.

Die Öffentlichkeit sieht das leider anders. Sieht es wenigstens die Heil- und Sonderpädagogik so?

Die ist in eine Sackgasse geraten. Sie schaut auf die Defizite, isoliert sie und will sie ungeschehen machen. Wenn ich etwas von Ihnen will, aber stets an Ihren Defiziten ansetze, kehren Sie mir irgendwann den Rücken zu und verzweifeln oder werden depressiv oder laufen weg oder hauen mich.

Wie kann eine Volksschullehrerin Ihre anspruchsvolle Pädagogik mit den Forderungen der Eltern, des Lehrplans und der so genannten Wissensgesellschaft vereinen?

Ihre Frage geht vom klassischen Wissenserwerb aus. Unser hierarchisch gegliedertes Schulsystem nährt die Illusion, dass die Schüler ihre Leistungen unserem Schulsystem verdanken. Ich sage: Gott sei Dank schaffen es einige Schüler trotz dieses Schulsystems!

Das klingt für Lehrer ziemlich provokativ.

Es gibt kein Modell, das international so gut erforscht ist wie die Integration. Und sie sagt, dass die nivellierenden Effekte nicht eintreten, wenn es uns pädagogisch gelingt, den Unterricht zu erneuern. Lernen in heterogenen Gruppen ist für die einzelnen Schüler viel effizienter als das Lernen in homogenen Gruppen. Ich würde den Lehrplan nicht abschaffen; es ist eine Frage der Didaktik und der Unterrichtsorganisation.

Unser Schulsystem ist nicht gerecht, es diskriminiert bildungsferne Schichten. Aber ohne Selektion geht es nicht, weil nicht alle an der Universität studieren können. Wie wird in Ihrer Utopie selektioniert?

Wir müssen nicht selektionieren. Mit der «Allgemeinen Pädagogik» bilden Kinder Interessen und Neigungen aus, die zu einer grösseren Vielfalt führen. Wir müssen nicht mehr sagen, du musst ins Gymnasium oder du darfst nicht, weil du geistig behindert bist.

Dann dürfte es aber keine stigmatisierten Berufe mehr geben.

Genau, ich sage meinen Studenten immer: Der wichtigste Mann in der Stadt ist der Müllmann.

Nicht einmal der Müllmann selbst glaubt das.

Deshalb brauchen wir unbedingt mehr Bildung und Aufklärung. Integration kann nicht glücken ohne eine gesellschaftliche Umorientierung. Wenn ich die Schulen so lasse, wie sie sind, dann kann Integration nicht funktionieren.

Auch hierzulande setzt sich in der Pädagogik die Erkenntnis durch, dass die Segregation gescheitert ist. Doch gleichzeitig wächst das sonderpädagogische Angebot.

Das ist der falsche Weg. Nehmen wir die Migranten: Wenn man Menschen ghettoisiert, dann wird die Schule im Ghetto zwangsläufig kapitulieren. Man versucht das Problem zu lösen, indem man die gesellschaftliche Ghettoisierung in eine neue, bildungsmässige Verbesonderung umsetzt, also in Sonderschulen und Kleinklassen. Damit geht der Spaltungsprozess weiter, ein negativer sozialer Prozess. Dieses Problem können wir nur politisch lösen, weil es von der Gesellschaft verursacht wurde, da hilft kein pädagogisches Mittel.


Georg Feuser, 1941 geboren, ist Professor für Behindertenpädagogik an der Universität Bremen. Vorher war er unter anderem Real- und Sonderschullehrer. Mit seiner «Allgemeinen Pädagogik» hat Feuser eines der radikalsten Integrationskonzepte im deutschsprachigen Raum entwickelt und während Jahren praktisch erprobt. Zurzeit versieht er eine Gastprofessur am Sonderpädagogischen Institut der Universität Zürich.