MARK STEWART AND THE MAFFIA: Ungeküsste Zukunft

Nr. 45 –

Der englische Postpunker und Politsänger hat sich trotz Abstechern ins Discoland einen linksradikalen Touch bewahrt.

Als man ihn in dieser Stadt das letzte Mal sah, stand die Mauer noch. Anfang November im Festsaal Kreuzberg, Berlin, das Publikum wartet auf das Erscheinen von Mark Stewart And The Maffia, seinen ersten und einzigen Auftritt auf dem europäischen Festland seit sehr, sehr langer Zeit. Vielleicht ist es kein Zufall, dass er sich Berlin dafür ausgesucht hat, kann man doch durchaus sagen, dass es der Fall der Mauer war, der ihn arbeitslos gemacht hat. Mit seiner manisch vorgetragenen Mischung aus Dub, Funk, Industrial Noise und antikapitalistischen Verbalattacken war er eine der grauen Eminenzen der Achtzigergegenkultur. Doch als die Blockkonfrontation Geschichte war, als in den Technoneunzigern die Rhetorik des Spasses kam, ward Stewart nicht mehr öffentlich gesehen - den Geist der Zeit formulierten andere.

Doch auch weil dieser Geist nicht mehr das ist, was er einmal war, beginnt der Blick zurück zu lohnen. Es ist dabei weniger Stewarts Zornimage, das zunächst interessiert, als die Musik, die mehr als antiimperialistischer Agitprop war. Stewart weiss das: Früher betrat er die Bühne mit einem Megafon, jenem Gerät, das die Stimme, vor allem aber die Meinung verstärkt. Nach Berlin hatte er bloss eine vergleichsweise dezente Trillerpfeife mitgebracht. Früher waren seine Auftritte eine hektisch-hyperaktive Performance, die ihm seinen Psychopathenruf einbrachte. Heute dagegen gibt er den reifen, professionellen, eher sympathischen als einschüchternden Sänger. Gut so, ist doch nichts peinlicher, als ein Mann mittleren Alters, der von der Rolle des zornigen jungen Mannes nicht lassen kann. So war der Auftritt von Mark Stewart und seiner Band The Maffia weniger Revolutions- als ausgefeilte Dub-Show. Einzig Bassist Doug Wimbish deutete an, dass der alte Geist nicht ad acta gelegt ist. Auf seinem T-Shirt las man das Wort «Vietcong».

Schon bei der überraschenden Veröffentlichung der Stewart-Compilation «Kiss the Future» diesen Sommer war es die Zeichensprache, die auf das fortwährende Gären der alten Positionen verwies. Öffnete man das Cover der besagten CD, fielen einem vier auf dicken Karton gedruckte Bilder entgegen. Eines davon zeigt einen jungen Mann im Kapuzenpulli, der einen Einkaufswagen über eine Strasse schiebt. Dies könnte das Dokument eines geglückten Konsumaktes sein. Ist es natürlich nicht, denn wo Mark Stewart draufsteht, ist linksradikaler Touch drin. Und so fällt es schwer, die tief ins Gesicht gezogene Kapuze als etwas anderes denn als Teil der typischen Autonomenkluft zu deuten. Statt die Zukunft zu küssen, erhält man eine Ansichtskarte aus den Achtzigern, genauer gesagt den frühen Achtzigern, noch genauer gesagt der Hochphase des Strassen- und Häuserkampfes, als London, Berlin, Amsterdam und Zürich brannten.

Der Discodissident

LPs der Pop Group, Stewarts Band von 1978 bis 1981, trugen Titel wie «How Much Longer Do We Tolerate Mass Murder?» oder «We Are All Prostitutes», zugleich der Titel eines der bekanntesten Pop-Group-Stücke. «Capitalism is the most barbaric of all religions», heisst es darin. Manche KritikerInnen hielten Stewart vor, sein Anliegen den HörerInnen gar zu dick aufs Brot zu streichen. Egal, wird er sich gesagt haben: Schreiendes Unrecht erfordert eine schreiende Sprache. Man sollte diesen Klartextmann im Zentrum autonomer Revolutionsmythologie der Dekade 1979 bis 1989 vermuten. Tatsächlich wurde er dort geschätzt, ja verehrt, im Mittelpunkt standen - wie gesagt - dennoch andere. Die britischen Crass etwa oder die holländischen The Ex. Denn während diese Bands den Nihilismus des Punk durch politsoziales Engagement ersetzt hatten, hatte Stewart vom Punk bloss das zornige Auftreten geliehen - im musikalischen Herzen war er, bei allem politisierten Bierernst, eine Art Discodissident.

Ungenau im Takt

«Ich war kein Punk. Ich war ein oder zwei Jahre jünger als die Leute der ersten Punkgeneration. Ich mochte stattdessen Black Music, bin in Funk-Clubs gegangen und hörte T-Connection, BT Express, Fatback Band und diesen heavy, bassbetonten Funk - also wollte ich selber Funk spielen. Wir hielten uns tatsächlich für funky, in Wirklichkeit konnten wir nicht besonders gut spielen und waren nicht einmal genau im Takt. Also dachten die Leute, wir wären Avantgarde. All die alten Journalisten kamen auf uns zu und fingen an, von Captain Beefheart zu reden. Ich konnte Captain Beefheart nicht ausstehen. Wir dachten, wir wären Bootsy Collins.»

Tatsächlich fällt es schwer, nicht an Captain Beefheart zu denken, hört man «We Are All Prostitutes». Die Wut, mit der Stewart seinen Text keucht, erinnert an Don Van Vliets gebellte Deklamationen, während die Klangbrocken gequälter Geigen und Saxofone dem vibrierenden Mahlstrom von Beefhearts Magic Band verblüffend nahe kommen. Doch selbst wenn diese Parallelen Zufall gewesen sein sollten - mit den Ideen und Gedanken musikalischer und intellektueller Avantgarden waren Stewart und seine Mitstreiter vertrauter, als man bisweilen zugab. Ein weites Feld intellektueller Nachklänge hat Postpunk-Geschichtsschreiber Simon Reynolds ausgemacht: «Wilhelm Reichs Idee der Triebbefreiung, Antonin Artauds Theater der Grausamkeiten, John Cages Zen-parfümierte Spiritualität, die situationistische Politik wütender Langeweile oder Beatpoeten wie Ginsberg and Kerouac.»

Gewiss, das sind allerfeinste Patenschaften, doch wie klingt das heute? Kann man 2005 Dringlichkeiten der politisierten achtziger Jahre noch nachempfinden? Oder hört man inzwischen eher einen weiteren Aspekt geschmäcklerischer Discoarchäolgie im Hipsterkosmos des Labels Soul Jazz Records? Die Antwort: Beides ist der Fall.

Musikalisch beeindruckt Stewarts Pop-Group-Zeit, wo mit viel Wollen und wenig Können vom Punk verpönte Genres aufgebrochen wurden. Zum Beispiel das Stück «We Are Time»: Gebaut um eine charismatische, Surfrock-artige Gitarrenhookline, erinnert es an die hektisch getriebenen B-52, verzichtet aber auf deren Retroästhetik und addiert dafür Stewarts verzerrte Stimme, halb Schrei, halb Gesang, derweil alles, was nicht niet- und nagelfest ist, mit Dub-Effekten belegt wird. Ebenfalls Genregrenzen transzendiert «Jerusalem». Ursprünglich ein Gedicht William Blakes (1757-1827), das mal mit Abscheu, mal mit Bewunderung versucht, so etwas wie den Geist Englands zu formulieren, beginnt Stewarts «Jerusalem» als typischer Dub-Reggae. Doch statt nach Dub-Reggae-Art Instrumentalspuren kommen und gehen zu lassen, schleichen hier englische Kirchenchoräle oder feierlich-ernste Blasorchester durch den Klangraum, auf dass man sich auf einer gespenstisch verfremdeten Krönungszeremonie in Westminster Abbey wähnt.

Spukhafter Klang

So oft es den fragil-befremdlichen Pop-Group-Stücken dieser Compilation gelingt, poetische Bedeutungsräume zu öffnen, so sehr tendieren die späteren Stücke dazu, den einmal gefundenen Stil bloss mit immer satteren Sounds auszumalen. So ist die Black-Sabbath-artige Gitarrenfigur von «Hysteria» (1989) kaum mehr als ein rockistischer Headbanger. Ganz anders dagegen «Hypnotized», eines der stärksten Stücke der Platte. 1985 aufgenommen, fungiert es auf der Compilation als Link zwischen dem frühen und dem späten Stewart. Mit einer klirrend hochgepitchten, das Wort «Hypnotized» singenden Stimme beginnt der Track. Ihr spukhafter Klang katapultiert einen noch einmal in die Mitte des Jahrzehnts der Angst: Michail Gorbatschow und alles, was er brachte, war 1985 allenfalls ein Punkt am Horizont. Realität waren Maggie Thatcher, die die Gewerkschaften ans Messer lieferte, oder Ex-US-Aussenminister Alexander Haig, der einen Atomkrieg mit der Sowjetunion gewinnen wollte und Europa als Schlachtfeld einkalkulierte. Da musste man nicht Mark Stewart heissen, um paranoid zu werden. Statt vollmundigen Gesangs hört man hier sublime Einflüsterungen. Während explodierende Schlagzeugsounds den Klangraum eingrenzen, lässt Stewart aus dessen Hintergrund Sprachsamples auftauchen. Er selbst, ganz Antiimperialist mit Megafon, deklamiert, wie wenige es sind, die den Reichtum der Welt in ihren Händen halten. Und doch möchte das eben auch ein avanciertes Discostück sein. Im Gegensatz zu den begabten Dilettanten der Pop Group bestand die Maffia aus wahren Funkmeistern. Keith Leblanc, Doug Wimbish und Skip Macdonald waren die ehemalige Sugarhill Gang, jawohl, die Band, von der der Backingtrack von «Rappers Delight» stammte. Und tatsächlich mutet «Hypnotized» ein wenig wie der derangierte, kleine Bruder von Herbie Hancocks futuristischem «Rock It» an. Nur leider haben grade Futurismen oft die geringste Halbwertzeit. Nach dem Untergang des Sozialismus waren Slogans wie «Capitalism is the most barbaric of all religions» out - selbst Attac findet heute die Kräfte freisetzende Marktdynamik gut. Wie steht es um «We Are All Prostitutes»? Im Zeitalter flacher, Kreativität erwartender Hierarchien ist diese Feststellung entweder total falsch oder total richtig. Wie auch immer. Später wird der wilde Hund Tricky herumerzählen, Stewart sei der Mensch gewesen, dessen Charisma ihn zum Musikmachen inspirierte. Aber das ist eine andere Geschichte.


Mark Stewart: «Kiss the Future». Soul Jazz Records.