Strassenfussball: Von Dolen und Tschuggern

Nr. 44 –

Das massenhafte Aufkommen der Automobile verdrängte ein städtisches Bubenspektakel und seine raue Kultur von der Strasse. Spurensuche in Jugenderinnerungen.

An der Zürcher Langstrasse war das Goal dort, wo heute der Pick Pay steht. Auch in den anderen Städten der Schweiz wurde auf den Strassen Fussball gespielt. «Ausgediente Tennisbälle - oft aber auch eine leere Konservenbüchse - zauberten uns das Reich des Königs Fussball vor die Augen, vor die Füsse, inmitten in die begeisterte Bubenseele», erinnert sich Josef «Seppe» Hügi, Arbeitersohn, gelernter Maler, FCB-Stürmer-Legende und in den fünfziger Jahren erfolgreicher Internationaler. «Die Strasse war der erste Trainingsplatz.» Hügi wuchs in der urbanen Agglomerationsgemeinde Riehen bei Basel auf. Jede freie Minute seiner Kindheit, so Hügi, habe dem Fussball gehört.

Den ersten Beleg für Strassenfussball fand ich bereits für das Jahr 1914, als der aus England importierte, organisierte «Association Football» - der Vereinsfussball auf Rasen - noch ein Privileg des an Britannien orientierten, modern denkenden, aufstrebenden Bürgertums war. Die Popularisierung des Spiels in der Zwischenkriegszeit, dessen Verbreitung auch in den arbeitenden Klassen machten den Strassenfussball spätestens ab 1930 zu einem Massenphänomen. Strassenfussball war eine Domäne der männlichen Jugendlichen, Mädchen waren davon ausgeschlossen.

«Öppe so isch’s gsi»

Die Gassenbuben standen ohne Verein oder Rasenplatz da, Lederbälle waren ohnehin unerschwinglich. Also organisierten sie ihre eigenen Wettbewerbe, indem sie Tennisbälle in ein Dolenloch zu bugsieren versuchten. Die Sache hatte jedoch einen Haken: Nach jedem Goal musste der schwere eherne Dolendeckel gehoben werden, um den Ball herauszufischen. Dies wiederum rief die Polizisten auf den Plan, welche die Fehlbaren verwarnten und gar auf den Posten mitnahmen. Hügi: «Immer mit dem gleichen Resultat: Die Personalien wurden notiert und die Eltern informiert. Nach kurzer Zeit war ich Stammgast auf dem Polizeiposten.»

Ähnlich verlief der Strassenfussball im Bern der dreissiger Jahre. Ruedi Straub, der später in der zweiten Mannschaft der Young Boys spielte, schreibt in seinen autobiografischen Kurzgeschichten «Öppe so isch’s gsi», dass auf den Strassen seines Quartiers wie in Basel mit einem Tennisball gekickt wurde. Auch in Bern diente das Dolenloch als Tor, mit der Zeit liessen die Knaben dieses offen. Es sei ein Wunder, meint Straub, dass nie ein Kind verunglückte. Andererseits dienten Eigentümlichkeiten des Quartiers als «natürliche» Tore: «Gschuttet isch meischtens am änere Stützli worde, wül dert natürlechi Gool gstande sy: linggs e Wöschstange u rächts e Luftschacht, wo mit Drahtgflächt isch abdeckt gsi.» Dass das eine Tor viermal grösser gewesen sei als das andere, habe niemanden gross gestört. Der Lärm habe dann und wann Anwohner verärgert. Während die Knaben der anderen Quartiere sich in regelrechte Kleinkriege mit den «Tschuggern» einlassen mussten, war Polizist Chriesi am Obstberg von humaner Natur und drückte dann und wann ein Auge zu. Die empfindlicheren Anwohner wussten dies und telefonierten kurzerhand dem bärtigen Polizisten Kurz, der jeweils nicht ruhte, ehe er den Tennisball in Händen hielt und somit aus dem Verkehr ziehen konnte. Dies zeigt, dass Polizisten durchaus einen gewissen Handlungsspielraum hatten.

Kritische Sozialisation

Namentlich in grossen Städten und deren Arbeiterquartieren herrschte jedoch eine obrigkeitskritische Einstellung vor. Die Knaben lernten dort schon sehr früh, einen Bogen um die Polizei zu machen. Auch der Aussersihler Arbeitersohn Edwin Läser berichtet in seinen Erinnerungen «Läsi» detailliert davon. Fussball war «Läsis» Lieblingssport, «aber schwierig, ihn auszuüben. In den Höfen wurde er immer wieder verboten, besonders wenn wieder einmal eine Fensterscheibe in Brüche gegangen war oder wenn frisch gewaschene und aufgehängte Leintücher so merkwürdig runde Schmutzflecken bekamen.» Auf den Schulhausplätzen sackten unduldsame Abwarte den Ball ein. Es verblieben die Strasse und einige wenige Felder, so der Platz Sirius beim Bullingerplatz, mit richtigen Goals, Netzen und verrosteten Drahtgittern. «Hier spielten wir heisse Matchs, waren in unserer Fantasie Trello, Xam (die Gebrüder Abegglen), Minelli und natürlich das junge Supertalent Fredy Bickel. Dessen Double war immer Werni Greub, der die Körpertäuschungen und Dribblings unseres Idols am besten hinkriegte.» Doch meistens mussten sich die Jugendlichen mit Dolenfussball begnügen, denn die wenigen Plätze waren notorisch überbelegt. Die älteren, beinahe erwachsenen Jugendlichen betrachteten diese Plätze als ihre Domäne und liessen sich durch Zureden nicht verdrängen. Im Ernstfall hatten sie die handfesteren Argumente parat.

Ein Schuss ins Apfelmus

Für die ärmeren Kinder war der Besuch eines Fussballmatchs der obersten Liga damals unbezahlbar. Manchmal schlichen sie sich ins Stadion, unbemerkt von den Ordnern, oder sie stiegen auf Bäume, um die Partien als mehr oder weniger geduldete Kiebitze verfolgen zu können. So beobachteten sie die Finten der Stars und versuchten, sie zu imitieren. Dadurch fanden sie später, nach der Lehre, Anschluss an den organisierten Fussball. Vorher blieb ihnen nur Strassenfussball. Einmal landete ein scharfer Schuss «Läsis» durch ein Fenster direkt in einem mit Apfelmus gefüllten Topf. Mutter Läser beruhigte den aufgebrachten Besitzer, zahlte die zerbrochene Scheibe unverzüglich und ein Bier im Freieck auf den Schrecken. Die Knaben lernten, wie man im Quartier miteinander umging, lernten, wie bei Konflikten zu reagieren war, um die gute Nachbarschaft nicht zu beeinträchtigen.

Und diese wurde oft gestört, nicht nur durch Polizisten. Felix Schwank, Sohn des Romanshorner Posthalters und später Stadtpräsident von Schaffhausen, erinnert sich in seinen Memoiren «Die verdunkelte Tante»: «So kam es, dass das Auto, so gross wir es damals fanden, schon damals eine Kehrseite hatte. Wir empfanden es als Fremdkörper, wenn wir am Tschutten waren. Auch dazu war die Strasse gut. Die Wiese gehörte den Bauern, und dieser duldete uns nur, wenn er grad gemäht hatte. Oder gegüllt.» Die Zeit des Zweiten Weltkriegs brachte infolge der Benzinrationierungen eine Spätblüte des Strassenfussballs. Auch anderen Aktivitäten konnte noch einmal nach Herzenslust gefrönt werden. Edwin Läser berichtet ausführlich vom Rollhockeyfieber, das Aussersihl während dieser Jahre überkommen habe. Die Buben gründeten Vereine wie den HC Badenerstrasse, den Rollhockeyclub Rolli oder den HC Zinistrasse. Bunte Tenüs wurden geschneidert, Tore selbst gebastelt. Trotz allgegenwärtigen Mangels konnte immer irgendwo Stoff aufgetrieben werden. Auch die schlechteren Spieler mussten berücksichtigt werden, um überhaupt ein Team bilden zu können. So war es möglich, eine eigentliche Strassenmeisterschaft zu organisieren. Manchmal wuchs ein an sich weniger begabter Knabe in einem Schlüsselspiel über sich hinaus. Vom erworbenen Ruhm zehrte er noch lange, manchmal ein Leben lang, so zumindest deute ich die von sichtlichem Stolz geprägten Passagen in den Lebenserinnerungen einfacher Leute.

Dann und wann endeten Fussballmatchs in Raufereien. Diese an gewisse Regeln gebundenen Auseinandersetzungen waren ebenfalls Ausdruck einer an Körperkraft orientierten männlichen Kultur. Mädchen hatten ihre eigenen Spiele. Die Zürcher Lehrerin Mary Apafi-Fischer schreibt in «Barfuss über den Milchbuck» ebenfalls über Rollschuhe, mit denen sie durch ihr Quartier flitzte. Sie amüsierte sich mit ihren Freundinnen beim Seilspringen. Als ein besonders dreister Knabe die Mädchen mutwillig störte, verpasste sie ihm kurzerhand ein paar Ohrfeigen.

Strasseneckenkultur

Der britische Sozialhistoriker Richard Holt bezeichnet die alten englischen Arbeiterquartiere als «street corner society». Das Leben habe sich im Wesentlichen auf der Strasse abgespielt, im öffentlichen Raum, an Strassenecken, auf Plätzen und in den vielen Wirtshäusern. Die jungen Männer seien unter den Augen der Erwachsenen auf der Strasse sozialisiert worden und hätten dort die Codes der Männlichkeit und des Quartiers zu dechiffrieren gelernt. Erst die «housing programs» der sechziger Jahre mit ihren Plattenbauten in den Vororten zerstörten die «Strasseneckenkultur» der britischen Industriestädte. Die soziale Kontrolle war gross, und von einem Knaben wurde gefordert, seine Rolle angemessen zu spielen. Oft war es der schiere Zwang, der die Arbeitenden auf die Strasse zwang. Die Wohnungen waren nämlich eng, überbelegt und oft muffig. Die Kinder ärmerer Eltern durften dem Vergnügen erst nach der Schule und Arbeit nachgehen. Im Haushalt galt es zu helfen. Die älteren Mädchen mussten auf die Kleinkinder aufpassen, wenn die Mutter zur Arbeit ging. Viele Kinder leisteten ihren Beitrag zum Familienbudget, indem sie beispielsweise Zeitungen austrugen oder als Handlanger von Handwerkern wirkten. Umso mehr genossen sie die Freizeit und eigneten sich dabei eigene Räume an. Auch in der Schweiz eroberten sich die Knaben den öffentlichen Raum, indem sie Tennisbälle in Dolen kickten. Sie erkannten die Normen ihres Milieus, weil sie diese dann und wann überschritten und von den Erwachsenen zur Rechenschaft gezogen wurden. Sie verinnerlichten schon recht früh, dass den Dienern der Staatsmacht kaum zu trauen war, und entwickelten teilweise recht raffinierte Strategien, um diesen zu entwischen.

Im Quartier waren sie die Experten, sie wussten alles, kannten jede Ecke und jedes Schlupfloch, das sie auch nützten, sei es zum Spiel, sei es zum versteckten Rauchen einer ersten Zigarette, sei es zum ersten Kuss. Das Automobil führte spätestens ab 1960 den Niedergang dieser rauen Kultur herbei. Die zahlreichen von einfachen Leuten verfassten autobiografischen Texte berichten nicht zuletzt von den Verlustgefühlen, welche dieser Niedergang auslöste.