Sexualität und Medien: Vom zwanglosen Zwang

Nr. 41 –

Wenn man darüber spricht, wie über Sex gesprochen wird: Ein Kongress in Zürich begann unverfänglich, entpuppte sich aber als heikles Unterfangen.

Können wir ohne Medien über Sexualität sprechen? Die Leitplanke für den Kongress «Sexualität und Medien im 20. Jahrhundert», der letzte Woche im Zürcher Volkshaus stattfand, war mit dieser eingangs gestellten Frage bereits gesetzt, nämlich das womöglich unauflösliche Verhältnis zwischen dem Sex und einer gigantischen Medienmaschinerie, die diesen unentwegt enthüllt, versteckt, hervorkitzelt und dann wieder ausschliesst. Als netten Aufhänger wählten die Organisatoren, die beiden Zürcher Historiker Jakob Tanner und Philipp Sarasin, den hundertsten Jahrestag von August Forels Manifest für eine entmoralisierte und biologisch verstandene Sexualität, sein Buch «Die sexuelle Frage». Der Schweizer Psychiater und Eugeniker gilt als - bislang noch wenig erforschter - Pionier der Sexualforschung.

Taschenbuch und Sittenfilm

Forels Buch, das im gleichen Jahr wie Freuds «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie» erschien, ist ein frühes Beispiel für die zunehmende Verbreitung von sexuellem Wissen in der Bevölkerung: Der über 600 Seiten umfassende Originalband «für Gebildete», wie es im Untertitel heisst, wurde 1912 in einer stark gekürzten Fassung aufgelegt, als Taschenbuchausgabe für die Masse sozusagen, damit es sich auch diese leisten konnte, sich mit der Frage des Sexuellen zu beschäftigen. Dieser reformerische Ansatz ist ebenfalls in der Arbeit des Sexualforschers Magnus Hirschfeld vorzufinden, der allerdings mit dem Sittenfilm auf ein noch populäreres Medium setzte. Alfred Kinseys bombastisches Medienecho ein knappes halbes Jahrhundert nach Forel schliesslich hat die Sexualität zu einer biologischen, von jeder Moralvorstellung entkoppelten Funktion schlechthin erklärt. Der Sex wird Alltag.

Doch auch Umgekehrtes kann man verzeichnen, wie der Wissenschaftsforscher Michael Hagner mit dem Gerichtsfall einer Misshandlung von 1903 akribisch aufrollte: Das durch den Hauslehrer zu Tode misshandelte Kind des Direktors der Deutschen Bank wurde erst durch die Empörung der Boulevardpresse zum Modellfall für den später in der Psychiatrie kanonisierten «Dippoldismus», dem sexuell motivierten Verlangen, Kinder brutal zu züchtigen. Dass die Massenmedien schon früh eigene Vorstellungen von Sexualität erfolgreich kolportierten, zeigt sich daran, dass der wissenschaftlichen Fallschilderung Informationen aus den Zeitungen zugrunde liegen.

Massenmedien greifen aber nicht nur in die Verbreitung des Sexuellen ein, sondern bilden auch eine Plattform für die individuelle Beschäftigung damit. Nirgends wird dies deutlicher als mit den förmlich explodierenden Ratgeberformaten seit Beginn der sechziger Jahre, worin wir aufgefordert werden, uns selbst als sexuelle Wesen wahrzunehmen und zu artikulieren. Angelehnt an Michel Foucaults Überlegungen zur Selbsttechnologie stellte ein thematischer Block des Kongresses den Aufforderungscharakter der Ratgeber ins Zentrum der Medienanalyse: «Liebe Marta», die legendäre Ratgeberkolumne des «Blicks», muss auch als Anleitung verstanden werden, sich selbst als (sexuelles) Problem zu formulieren. Eine laufende Studie des Nationalfonds beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern die Briefe an die Sexratgeberin Marta Emmenegger zur Konstruktion eines sexuellen Selbstverständnisses in der Schweiz beitrugen. Sein eigenes Begehren zu problematisieren, sich selbst zum Gegenstand der Beobachtungen zu machen, wurde auch das Erfolgsrezept der deutschen Jugendzeitschrift «Bravo».

Heute ist die persönliche Beichte teilweise ins Internet abgewandert, in die Weblogs, wo sowohl Scham als auch autoritäre Stimme fehlen. Gegenüber früheren moralischen Zeigefingern stellt die Medialisierung zweifellos ein Fortschritt dar. Von Befreiung mochte jedoch niemand reden, weil wir nicht frei über das Angebot der Massenmedien verfügen könnten. Es herrsche heute der «zwanglose» Zwang, der das sexuelle Wesen zum selbstregulativen Verwalter erkläre, das seine Sexualität optimiere und flexibilisiere, so die Wissenschaftssoziologin Sabine Maasen.

Blinde Flecken

Den insgesamt aufschlussreichen Beiträgen des Kongresses haftet jedoch der Makel einiger blinder Flecken an: Die Frage nach der Medialität der Sexualität wurde nicht in allen Beiträgen ernst genug genommen, insbesondere was über das gedruckte Wort hinausging. Dass die Sexualität im 20. Jahrhundert vorab zu einer visuellen Form strukturiert worden ist, wie dies MedienwissenschaftlerInnen schon lange formuliert haben, hätte bedingt, sich eingehender mit der Frage nach der Produktion und dem Konsum von (sexuellen) Bildern zu beschäftigen. Ihnen wurde in den Präsentationen oft nur die Funktion der Illustration zugewiesen, sie waren selten Ausgangspunkt einer Analyse. Das Fernsehen, neben dem Film immerhin das Leitmedium des 20. Jahrhunderts, kam überhaupt nicht zur Sprache. Bis auf Kathleen Cannings Ausführungen zur «Neuen Frau» in der Weimarer Republik blieb auch das Geschlecht als Strukturkategorie ausgeklammert. Gar zur Randnotiz wurden Lesben und Schwule, die prominentesten und medialsten nichtheterosexuellen sexuellen Subjekte des letzten Jahrhunderts.

Was haben uns die Medien also sexuell beschert? Viel Diskurs und wenig Sex, wie Günter Amendt in seinem etwas pessimistischen Rückblick auf sein Skandalbuch «Sexfront» zusammengefasst hat. Für seine lustlose Antwort auf die sexuelle Frage bediente er sich eines Zitats von Bob Dylan: «Mass communication killed it all.»