Im Wahlkampf: Aufbruch in der Tiefebene

Nr. 39 –

Die Wahlen 2019 werden in der Agglomeration entschieden. Unterwegs im Aargau, in St. Gallen und in Zug zeigt sich: Linke KandidatInnen gewinnen dort gerade ein neues Selbstvertrauen.

Von Stube zu Stube: SP-Ständeratskandidat Cédric Wermuth, Aargau.

Der Wahlkampf beginnt am Bahnhof Wettingen. Als die S-Bahn in Zürich losfuhr, hinein in den Sonnenuntergang im Limmattal, war noch nichts von ihm zu sehen. Doch hier in Wettingen, nach der kurzen Fahrt über die Kantonsgrenze, lächelt es von fast jeder Strassenlaterne: Ein FDPler namens Adrian Schoop ist der Erste, er will «Schub geben». Schon grüsst Cédric Wermuth im properen Hemd, sein Slogan lautet plakativ: «Einer für alle!» So geht es weiter, die ganze Hauptstrasse entlang, bis einem Wermuth persönlich entgegentritt, im weissen Hemd.

Die Veranstaltung «Triff den Wermuth» findet im «Zwyssighof» statt, benannt nach dem Mönch Alberich Zwyssig, der den Schweizerpsalm dichtete. Genauer gesagt im Rotary-Saal des «Zwyssighofs», der heute ein Texmexrestaurant ist. Was für ein schönes Durcheinander. Willkommen in der Schweiz 2019!

Ob die Sitznachbarin Wermuth wählen wird? Sie sei skeptisch. Er habe bei der Nomination eine Frau ausgebremst, das habe sie ihm nicht verziehen. Vor einer halben Stunde habe sie sich dennoch entschieden vorbeizukommen.

Der diesjährige Wahlkampf weist eine Besonderheit auf. Er wird zum ersten Mal seit zwanzig Jahren nicht von den Themen der SVP dominiert. Gewiss, die RechtspopulistInnen werden ihre StammwählerInnen mobilisieren. Aber sie diktieren die Themen nicht mehr. Stattdessen wird übers Klima geredet, über die Gleichberechtigung, die Krankenkassenprämien. Vieles scheint möglich, und nirgendwo lässt sich das besser besichtigen als ausserhalb der links-grünen Hochburgen. Draussen im Aggloland. In der Zone zwischen Stadt und Land – das zeigten die Zürcher Kantonsratswahlen im Frühling – wird sich entscheiden, ob sich Parlamentssitze von rechts in die Mitte und nach links verschieben. In Wettingen etwa mit Cédric Wermuth, in Wil mit der Grünen Franziska Ryser oder in Zug bei der Grünalternativen Manuela Weichelt-Picard.

«Es wär öppe Zit»

In Wil bellt plötzlich ein Hund. Die Besitzerin klemmt seine Schnauze zwischen ihre Beine und spricht dem Kläffer gut zu: «Ist unheimlich, gell.» Vor ihr steht unbeeindruckt die Dragqueen Freda Din mit grüner Perücke, schrillem Make-up und einem goldenen Paillettenkleid. Nationalratskandidatin Franziska Ryser unterhält sich derweil mit einer Kollegin der Hundebesitzerin über den Ersatz für Ölheizungen. «Es kann doch nicht jeder selber bezahlen», sagt die Passantin. Gerade dafür würden die Grünen ja schauen, antwortet Ryser. Sie wollten den ökologischen Umbau über die Steuern finanzieren. Umverteilen. «Die Grünliberalen wollen das nicht.»

Wahlkampf mit Dragqueen: Die grüne Nationalratskandidatin Franziska Ryser, St. Gallen.

Ryser ist 27 Jahre alt und kandidiert im Kanton St. Gallen für den Nationalrat – und um ihren Namen bekannter zu machen, auch für den Ständerat. Wenn man mit ihr und Freda Din durch Wil schlendert, merkt man, warum sie als vielversprechende Nachwuchshoffnung gilt. Ryser hat das Geschick, das gute PolitikerInnen ausmacht: Sie kann die Leute abholen.

Am Bahnhof Zug studiert derweil eine alte Frau den Flyer. Dann sagt sie: «Es wär öppe Zit, es chämi besser.» Manuela Weichelt-Picard ist seit 6.30 Uhr unterwegs, im grünen Hosenanzug, den sie in diesem Wahlkampf oft trägt. Sie verteilt Flyer, Leuchtstifte und Konfitürengläschen mit ihrem Konterfei. «Ich wäre die erste Zuger Nationalrätin», sagt sie den PendlerInnen. «Wir haben noch nie eine Frau nach Bern gewählt.» Das gibt es sonst nur in Obwalden, Appenzell Innerrhoden und Glarus. Weichelt-Picard sagt es bei diesen Treffen öfters: «Wir sind so nahe an Zürich. Und dann dieses traditionalistische Verhalten.»

Frühmorgens auf der Bahnhofsüberführung sind es vor allem Männer in Anzügen und mit Aktenköfferchen, die ablehnend an der Standaktion der Alternativen Grünen vorbeihetzen. Ein älteres Paar im Wandertenue sagt: «Sie haben Glück, die Grünen sind ja jetzt in.»

Zug: Hier hält die CVP seit Jahrzehnten ununterbrochen einen Nationalratssitz, derzeit mit Parteipräsident Gerhard Pfister. Der zweite Sitz ist seit 1999 in der Hand der SVP. Den dritten gewannen abwechselnd die SP, die FDP, die Grünalternativen mit Jo Lang. Jetzt hat ihn wieder die FDP inne, doch ihr Bisheriger tritt nicht mehr an. Den Freisinnigen fehlen die Zugpferde. Nur Kantonsrätin Karen Umbach gilt als ernst zu nehmende Konkurrenz für Weichelt-Picard, die als Spitzenkandidatin der vereinigten Linken antritt.

Traf auf hundert Prozent Männer: Die grünalternative Kandidatin Manuela Weichelt-Picard, Zug.

St. Gallen ist ein Ringkanton mit vielen Gegensätzen. Lange Jahre dominierte auf dem Land die CVP. Heute sind das Rheintal oder das Toggenburg in SVP-Hand. Fünf der zwölf Mandate stellt die Partei. Die Linke ist mit zwei Sitzen untervertreten. Nun könnten die Grünen oder die Grünliberalen einen oder sogar zwei Sitze gewinnen, auf Kosten von SVP und CVP. Franziska Ryser gilt als Favoritin, neben der früheren Nationalrätin Yvonne Gilli. Dass das rechte St. Gallen auch für linke Überraschungen gut ist, zeigte sich 2011: Damals gewann Paul Rechsteiner die Ständeratswahlen gegen SVP-Star Toni Brunner.

Schliesslich der Aargau: Auch hier dominiert die SVP mit sieben von sechzehn Sitzen. Im Ständerat sind nach dem Rücktritt von Pascale Bruderer (SP) und Philipp Müller (FDP) beide Sitze zu vergeben. Alle grossen Parteien treten an. Die SP mit einem Unterschied zu den früheren Wahlen: Bruderer galt als konziliante Kandidatin des rechten Parteiflügels. Wermuth politisiert pointiert links. Laut dem Prognosemarkt Defacto liegt er gemeinsam mit dem FDP-Kandidaten Thierry Burkart vorne.

Die Pyramide drehen

In Wettingen hat inzwischen Cédric Wermuth seinen Vortrag begonnen: freie Rede ohne Powerpoint. Das Bild, das er zeichnet, bleibt dennoch hängen. Es ist das einer Politik, die von mächtigen Lobbys geprägt ist: 6,5 Millionen Franken, so steht es in einem von ihm selbst in Auftrag gegebenen Report, erhalten bürgerliche PolitikerInnen allein für ihre Mandate bei Banken, Versicherungen und Krankenkassen. Was für die Schweiz gelte, gelte auch global: Die Multis torpedierten jede Vorschrift gegen den Klimawandel. Sieben der zehn grössten Unternehmen weltweit machten ihren Gewinn mit der Zerstörung der Umwelt, ob bei der Förderung von Erdöl oder mit dem Bau von Autos.

«Unsere Gesellschaft wird gerne als Pyramide gesehen», sagt Wermuth gegen Schluss. Die LeistungsträgerInnen bei den Banken oder der Pharma oben, die DienstleisterInnen in der Pflege oder der Schule unten. «Wären aber Lehrer oder Kitabetreuerinnen nicht jeden Morgen auf ihrem Posten, stünde das ganze Land still.» Die Pyramide umdrehen, das ist Wermuths Ziel: Politik für die Allgemeinheit machen statt für die Konzerne. Im Rotary-Saal klatschen die fünfzig Anwesenden. Und was meint die Frau nebenan, wählt sie nun Wermuth? «Ja», sagt sie überzeugt. «Er hat Zusammenhänge hergestellt. Auf eine glaubwürdige Art.»

«Mir geht es ums grosse Ganze», sagt Wermuth nach dem Vortrag. Keine unbescheidene Ansage. Aber der Politikwissenschaftler argumentiert plausibel: «Ich möchte am 20. Oktober nicht mit einer ausgefeilten Wahlstrategie ein Mandat gewinnen.» Vielmehr wolle er Orientierung stiften. «Die meisten Leute haben das Gefühl, dass es mit der herrschenden Politik nicht weitergeht.» Die dümmste Antwort darauf sei, die RechtspopulistInnen zu wählen.

Wermuth will mit Inhalten dagegenhalten, bei denen er glaubwürdig ist: der Lobbykritik, der Klimapolitik, der sozialen Sicherheit. Er will sich nicht nach rechts verbiegen, um WählerInnen in der Mitte zu gewinnen. «Mir geht es darum, jene zu mobilisieren, die sonst nicht zu einer Wahl gehen.» Der Aargau, dieser Kanton ohne Zentrum, sei ein günstiges Terrain für das Vorhaben. «Es gibt hier kein starkes Kantonsgefühl.» Umso besser komme man über nationale Themen ins Gespräch.

Wermuths Wahlkampf scheint überhaupt ein einziges Gespräch zu ein. Der 33-Jährige, von dem die Rechten gerne sagen, er habe nie gearbeitet, wurde nur deshalb nominiert, weil er als Ko-Kantonalpräsident die tägliche politische Arbeit geleistet hatte. «Den Cédric» kennt jedes Mitglied persönlich. Nach der Nominierung sprach Wermuth weiter: Er liess sich von Privatpersonen einladen, traf mehr als tausend AargauerInnen. Aus solchen Abenden bildeten sich Lokalkomitees, die für ihn jetzt öffentliche Diskussionen organisieren. Wermuth ist überzeugt, dass das Gespräch auch nach dem 20. Oktober weitergeht: «All die Leute, die jetzt für eine linke Politik aktiv werden, bleiben es auch nach der Wahl.»

«Schön geschminkt!»

Wil mit seinen gut 23 000 EinwohnerInnen ist ein typisches Regionalzentrum. An diesem strahlenden Samstag steht an jeder Ecke eine andere Partei an ihrem Stand, und alle blicken neidisch auf Freda Din. Sie zieht die Blicke auf sich – und damit auf Franziska Rysers Wahlkampf. Ihre Strategie mag etwas plump sein, aber der Wahlkampf mit Dragqueen funktioniert. «Ich will den Leuten bewusst machen, dass die Grünen nicht nur für das Klima stehen», sagt sie, «sondern auch für gesellschaftliche Themen.» Oft beginnen die Gespräche mit einem «Schön geschminkt!» und landen dann bei Ehe für alle, bei Frauenrechten, Genderthemen.

Die Diskussionen auf den Kleinstadtstrassen machen einem bewusst, dass Weltbilder oft nicht konzis sind. Da ist die Frau, die der Politikerin zwar beipflichtet, dass es gleiche Rechte für alle brauche. Um dann über die Ausländer am Bahnhof zu schnöden. Eine andere freut sich zwar über Freda Din: «Jeder, wie er will!», findet dann aber doch, dass man nicht mehr so ein Aufhebens machen müsse um die Schwulen und Lesben. «Wo haben die denn noch nicht die gleichen Rechte wie wir?» Nach längeren Diskussionen packt die Frau einen von Rysers Flyern ein. «Geben Sie mir den mal mit.»

Franziska Ryser sagt von sich, sie habe keine Berührungsängste. Die studierte Maschinenbauingenieurin sitzt seit Anfang zwanzig im St. Galler Stadtparlament. Damals rückte sie nach, heute hat sie die Politik verinnerlicht. Das merkt man, wenn man ihr beim grossen Ständeratspodium des «St. Galler Tagblatts» zuschaut. Im Pfalzkeller wirkt Ryser – die einzige Frau in der Runde – akribisch vorbereitet. Sie lehnt lässig am Beistelltisch, die Augenbrauen immer ein wenig spöttisch nach oben gezogen – bereit, einen Treffer zu landen. Als Einzige auf dem Podium bekommt Ryser zweimal Applaus.

Sie komme aus einer Theaterfamilie, sagt sie beim Bier danach. Ihr Vater führte dreissig Jahre lang das Figurentheater St. Gallen, «das hilft». Sie erlebe in diesem Wahlkampf immer wieder Überraschendes, sagt Ryser, und erzählt von einem Mann, der nach einem Podium in Toni Brunners Heimatort Ebnat-Kappel auf sie zugekommen sei. «Er sagte, er wähle jetzt grün. Die anderen könne man beim Thema Klimawandel ja nicht gebrauchen.»

Es ist vielleicht das Erstaunlichste in diesem Wahljahr: dass manche linken Positionen gesellschaftsfähig geworden sind. Am Ständeratspodium wirkt Ryser moderat, wenn sie für einen sozialverträglichen ökologischen Umbau oder die Ehe für alle einsteht. «Klima, Gender und Digitalisierung», so fasst Ryser ihre politischen Schwerpunkte zusammen. Lange hatten diese Themen keine Konjunktur. Jetzt, wo sie in allen Gesprächsrunden verhandelt würden, mache es richtig Spass.

Frauenrechte für Steinhausen

Manuela Weichelt-Picard bringt viel politische Erfahrung mit. Zuletzt war sie Frau Landammann, also Vorsteherin der Zuger Kantonsregierung. Zwölf Jahre lang sass sie in der Regierung, bis zu ihrem Rücktritt im letzten Jahr. Nun will die 52-Jährige nach Bern. Aber das hier ist immer noch Zug, und gerade ist es Hünenberg. «Hier dürfen wir nur wenige Plakate aufstellen», sagt Weichelt-Picard, bevor sie auf einen weiteren Pendler zusteuert. «Die Gemeinde reglementiert das strikt nach Wählerstärke.» Podien gibt es in Zug vor den Wahlen keine. «Früher hatten das noch die Medien organisiert», sagt die Nationalratskandidatin.

Als Weichelt-Picard 1991 in den Kanton Zug zügelte, waren stille Wahlen üblich. Weichelt-Picard hatte zuvor in Zürich gelebt: Revolte und Aufbruch. Der erste Frauenstreik. Die junge Frau mit einem Master in Public Health organisierte in einer Klinik Frauen. «Das gefiel mir», sagt sie nach dem morgendlichem Wahlkampf in einem Café. Nach einer Asienreise fand ihr Partner eine Stelle in Zug, das Paar zog nach Steinhausen, «dort nannte man mich wieder Fräulein». Sie schloss sich einer Partei namens «Frische Brise» an, wurde mit 27 Jahren Kantonsrätin. Heute politisiert sie für «Die Alternative – Die Grünen». Das Wort «Alternative» sei wichtig, betont Weichelt-Picard. «Es steht dafür, dass wir uns in Zug stark an den lokalen Themen reiben. Die Rohstoffe, der teure Wohnraum, Zug als Steueroase: Diese Themen mobilisieren, sie werfen grundsätzliche Fragen zu unserem Wirtschaftssystem auf.»

Weichelt-Picard war in der Zuger Regierung nicht nur lange die einzige Linke, sondern auch die einzige Frau: «Als ich das Amt antrat, waren im Kader meines Departements hundert Prozent Männer beschäftigt, heute liegt die Frauenquote bei fünfzig Prozent.» Doch es gab auch Niederlagen. Allen voran der Moment, als der Zuger Kantonsrat nicht auf das Gleichstellungsgesetz eintrat, das sie ausgearbeitet hatte. Weichelt-Picard war landesweit erst die zweite Regierungsrätin, die im Amt Mutter wurde. Die lokale Presse trat darauf mit dem Artikel «Sie stillt sogar in den Sitzungen» eine Debatte los.

Lauthals gegen das Gleichstellungsgesetz trat 2016 ausgerechnet ihre jetzige Wahlkampfkonkurrentin Karen Umbach von der FDP an. Die hat Weichelt-Picard letzte Woche im Zuger Lokalblatt mit der Behauptung diffamiert, sie setze sich nicht wie behauptet für Gleichberechtigung ein. Umbach erntete dafür in zahlreichen LeserInnenbriefen Kritik. Dazu Weichelt-Picard: «Die Leute wissen, dass ich mich schon in Steinhausen für bessere Kinderbetreuung eingesetzt habe.» Es ist ein Hinweis darauf, dass sie den Nerv der Bevölkerung vielleicht besser trifft.

Wermuth, Ryser, Weichelt-Picard. Sie haben unterschiedliche Biografien, unterschiedliche Strategien. Aber unterwegs mit den dreien spürt man, dass eine pointiert linke, grüne Politik draussen zwischen Stadt und Land plötzlich ein Bedürfnis ist.