Durch den Monat mit Franco Cavalli (Teil 2): Ernsthaft, Sie wollen eine Revolution?

Nr. 37 –

Im Tessin herrsche ein Sozialdumping wie im Wilden Westen, sagt Franco Cavalli. Der Tessiner Nationalratskandidat kämpft deshalb nicht nur für besseren Lohnschutz. Er will auch eine Debatte über Europa und Migration.

Arzt Franco Cavalli: «Für uns ist es viel billiger, wenn wir 1500 Ärzte aus anderen Ländern hereinholen, statt sie hier auszubilden. Aber wir bluten damit die betroffenen Staaten aus.»

WOZ: Herr Cavalli, Sie haben einen Grossteil Ihres bisherigen Lebens im Tessin verbracht. War es Ihnen nicht manchmal zu eng in dieser zwischen der Deutschschweiz und Italien eingeklemmten Provinz?
Franco Cavalli: Oh doch! Ich habe einmal in einem Interview gesagt, was mein ideales Lebenskonzept wäre: sechs Monate hier, sechs Monate in New York. Die Antiimperialisten kritisierten mich dafür: Warum sagst du nicht Peking oder Havanna? Aber im Ernst, das Tessin wandelt sich, Lugano, Bellinzona, Locarno wachsen zu einem städtischen Raum zusammen. Ich glaube, ich bin geblieben, weil ich beweisen wollte, dass man hier so viel zustande bringen kann wie ennet der Alpen. Und ich mag die Mentalität der Tessiner, sie sind schneller und kreativer als die übersättigten Deutschschweizer. Auch das meinte ich, als ich die SP damals eine Funktionärspartei nannte.

Was sind vor den Wahlen im Tessin die grossen Themen?
Im Tessin gibt es circa 10 000 Leute, die ihre Krankenkassenprämien nicht bezahlen können. Ihnen droht, dass man sie nicht behandelt. Für 51 Prozent der Leute sind die Prämien doppelt so hoch wie alle Steuern zusammengerechnet. Sie fallen hier viel mehr ins Gewicht, weil die Löhne viel tiefer sind als in der Deutschschweiz. Das ist das zweite grosse Thema, das Lohndumping. Man kann das Tessin nicht mit anderen Schweizer Grenzgebieten vergleichen. Der Unterschied des Lebensstandards zwischen hier und der Lombardei ist viel höher als etwa derjenige zwischen Basel und Baden-Württemberg. Deshalb haben wir auch ein Sozialdumping wie im Wilden Westen.

Bislang hat die Lega von dieser Gemengelage profitiert, bei den Tessiner Kantonswahlen vom Frühling verloren sie erstmals. Weshalb?
Die Lega ist zur Mehrheitspartei geworden, sie sitzt nun an den Schalthebeln der Macht. Geändert hat sich an den Zuständen dadurch aber nichts, das haben die Leute gemerkt.

Die Antwort der Lega auf die Grenzgänger lautet: Fremdenhass und Europafeindlichkeit. Was ist die Antwort des Forum Alternativo, für das Sie kandidieren?
Die Lega tut so, als müsse man bloss die Personenfreizügigkeit kündigen – und dann kommt alles gut. Aber Lohndumping gab es schon vor den Bilateralen. Wir kämpfen für hohe Minimallöhne, Gesamtarbeitsverträge und verstärkte Kontrollen. Der Bund müsste dem Kanton Tessin dringend zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen, um der speziellen Situation gerecht zu werden.

Auch innerhalb der linkspopulistischen Strömungen gibt es europafeindliche Tendenzen. Wie stehen Sie selbst zur EU?
Ich stehe je länger, je mehr denjenigen nahe, die finden, die EU sei nicht mehr reformierbar. Sie wurde ja mit jedem Vertrag neoliberaler. Es gibt keinen Lohnschutz, der öffentliche Dienst ist kaum vor Privatisierungen geschützt und so weiter. Heute haben in der EU die Finanzkapitalisten die Oberhand und machen, was sie wollen. Man sieht es ja bei den Verhandlungen zum Rahmenabkommen: Die Schweiz steht in diesem Fall absurderweise fast schon als links da.

Das alles ist doch aber keine Frage der Institution EU, sondern der politischen Kräfte, die Europa dominieren!
Natürlich geht es auch darum. Aber es ist doch naiv, wie die SP zu glauben, man könne der EU nun einfach beitreten, um sie dann von innen heraus nach links zu verschieben. All die Verträge lassen sich nicht so leicht rückgängig machen. Es braucht viel mehr eine Revolution (lacht).

Ernsthaft?
Zumindest glaube ich, dass nur die neuen linken Bewegungen Europa retten können, indem sie eine andere europäische Vision verwirklichen.

Wie die Lega betreibt auch ein Teil der populistischen Linken eine ausländerfeindliche Politik. Sie will mit dem Argument des Lohnschutzes die Einwanderung begrenzen.
Sahra Wagenknecht von der deutschen Partei Die Linke, die so argumentiert, hat in einem Punkt recht: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht einfach billige Arbeitskräfte holen. Natürlich müssen wir Menschen auf der Flucht helfen. Aber wir beuten die Länder des Südens weiter aus, wenn nun auch noch ihre besten Kräfte nach Europa kommen. Für uns ist es auch viel billiger, wenn wir 1500 Ärzte aus anderen Ländern hereinholen, statt sie hier auszubilden. Aber wir bluten damit die betroffenen Staaten aus – und hier steigt der Lohndruck.

Also: Grenzen zu und die bilateralen Verträge kündigen?
Nein! Die Bilateralen haben der Schweiz viel gebracht. Diesen Weg müssen wir weitergehen. In der Krebsforschung etwa profitieren wir sehr von den EU-Geldern. Aber man muss korrigierend eingreifen. Meine Frau ist die Chefin der Pflegefachfrauen in den öffentlichen Spitälern des Tessins. Seit man dort die Ausbildung verstärkt hat, ist der Anteil der Grenzgänger von 25 auf 20 Prozent gesunken. Das ist das, was wir wollen.

Franco Cavallis Forum Alternativo will im Parlament eine neue Fraktion linker Gruppierungen mitbegründen. Dazu müsste allerdings die Allianz, der unter anderem auch die Zürcher Alternative Liste angehört, bei den Wahlen fünf Sitze gewinnen.