«Miroloi»: Wo der Angstmann herrscht

Nr. 35 –

Mit ihrem Debütroman «Miroloi», der von weiblicher Selbstermächtigung erzählt, verwirrt Karen Köhler die männliche Kritikergilde. Warum eigentlich?

Kreativität jenseits der herrschenden Normen: Karen Köhler verbindet gekonnt formale Verspieltheit und drastische Darstellung patriarchaler Gewalt. Foto: Christian Rothe

«Mein Lied hat viele Strophen», sagt – oder singt – die namenlose Erzählerin in der sechsten Strophe von Karen Köhlers neuem Buch. «Miroloi» heisst der Roman, was aus dem Griechischen stammt und mit Klagelied oder Totenlied übersetzt wird, und er besteht aus 128 Strophen. Die junge Frau singt gegen das Vergessen an, denn: «Ich komme in der Geschichte des Dorfes, die irgendjemand irgendwann in ferner Zukunft vielleicht einmal aufschreiben möchte, gar nicht vor.» Die namenlose Erzählerin singt ihr ganzes Leben, mal jauchzend, mal schreiend, mal schweigend.

Es ist ein wundersames Buch, das die in Hamburg lebende Autorin geschrieben hat. Und es ist ein Buch, das die männlichen Rezensenten in Verwirrung stürzt. «Man weiss im Grunde überhaupt nicht mehr, was irgendwas ist», klagt Literaturprofessor Moritz Bassler in der Berliner «taz». Wenn das Literatur sei, dann habe sich der Literaturbegriff in den letzten Jahren radikal gewandelt, «und wir brauchen neue Massstäbe der Schönheit, des Stils und des Geschmacks». Bassler verrät zwar nicht, an welchem Literaturbegriff, an welchen ästhetischen Massstäben er sich bisher orientiert hat. Doch seine Verzweiflung angesichts der Tatsache, dass er diesen Text nicht einordnen kann, wirkt so echt, dass man ein bisschen Mitleid bekommt. Wo kommen wir denn hin, wenn gewisse Autorinnen sich nicht an die Massstäbe des Literaturwissenschaftlers halten?

Auch der Kritiker Jan Drees fragt nach der Lektüre des Buchs: «Ist das Literatur im eigentlichen Sinne, oder nur ein Easy Read für den bildungsbürgerlichen Mittelstand?» Er nimmt das Buch als Anlass für einen Rundumschlag gegen das, was er «die zahlreichen Phänomene oder Probleme der aktuellen Gegenwartsliteratur und Literaturkritik» nennt. Feminismus ist für Drees so ein Problemphänomen: ein «Trend-Thema», ohne das kein Hahn nach Köhlers Buch krähen würde. Und da hat er sogar recht: Noch vor wenigen Jahren hätte nicht nur kein Hahn nach diesem Buch gekräht, sondern auch kein Gockel darüber geschrieben. Einfach deshalb, weil Karen Köhler eine Frau ist und ihr Roman aus dem Alltag einer jungen Frau erzählt. Über Jahrhunderte wurde Literatur von einer weitgehend männlichen Kritikergilde bewertet und die Literaturgeschichte vor allem von Männern geschrieben. Dass sich das nun ändert – dem «Trend-Thema» Feminismus sei dank –, ist überfällig.

Drübensüchtige Tausendaugen

Doch warum lässt ausgerechnet ein Roman wie «Miroloi», der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht, männliche Kritiker so hilflos und verärgert zurück? Karen Köhler erzählt von der Selbstermächtigung einer jungen Frau auf einer vom Rest der Welt isolierten Insel, die nach ihren eigenen Gesetzen funktioniert: Hier gibt es noch keinen Strom, nur Knaben dürfen zur Schule gehen, Mädchen werden jung verheiratet und müssen Röcke tragen, Ungehorsame werden durch Anbinden an einen Pfahl oder mit dem Knüppel des Angstmanns bestraft. Köhler erzählt von dieser archaisch-patriarchalistischen Welt, die sie nicht weiter verortet, aus der Sicht der namenlosen Erzählerin. Sie ist ein Findelkind, eine Ausgestossene, die von den InselbewohnerInnen verachtet und gequält wird. Heimlich lernt sie nicht nur lesen und schreiben, sondern entdeckt auch ihre eigene Sexualität und die Liebe.

Das alles wird in kindlich-naiver Sprache mit detaillierten Beschreibungen erzählt. Das klingt manchmal etwas gar plaudernd, doch passt diese Sprache zur Protagonistin. Ausserdem schafft Köhler, die bereits bei ihrem Erzählband «Wir haben Raketen geangelt» (2014) einen ganz eigenen Erzählton gefunden hatte, immer wieder komische Dialoge, stimmige Miniaturen und neue Wortkreationen. So geht die Erzählerin nicht durchs Dorf, sondern sie «zickzackt»; wer zu viel über das Leben auf der anderen Seite des Meeres weiss, kann «drübensüchtig» werden; die DorfbewohnerInnen sind die «Tausendaugen», und ihr heimlicher Geliebter macht ihr eine «Kussstrasse» von der linken Achsel über die Brüste zum Bauchnabel.

Literatur im Liegestuhl

Nachdem die Erzählerin brutal körperlich bestraft wurde, besteht die 115. Strophe aus vier leeren Seiten. Sie trägt den Titel «(Danach)». Schlicht und eindringlich illustriert die Autorin so die Sprachlosigkeit nach dem Erleben von physischer Gewalt. Diese Verspieltheit von Sprache und Form setzt Köhler gezielt ein, um die Befreiung der Erzählerin aus einem gewalttätigen Patriarchat literarisch in Szene zu setzen. Selbstermächtigung heisst eben auch Kreativität jenseits der herrschenden Normen.

Doch genau diese Verbindung von formaler Verspieltheit und drastischer Darstellung patriarchaler Gewalt scheint viele männliche Kritiker zu verwirren. «Liegestuhltauglich» findet Bassler den Roman und meint das nicht als Kompliment. Bleibt die Frage: Warum sollen wir Literatur nicht im Liegestuhl lesen? Falls das bislang verboten war, ist jetzt der Moment, um ganz neue Massstäbe zu setzen. Wir schlagen vor: Auch Bücher, die man im Liegestuhl liest, können Literatur sein. «Miroloi» wäre da ein gutes Beispiel.

Karen Köhler: Miroloi. Hanser Verlag. München 2019. 464 Seiten. 39 Franken