Pierre-Yves Maillard: «Ich werde das Rentenalter 65 für Frauen bekämpfen»

Nr. 28 –

Der höchste Gewerkschafter der Schweiz im Gespräch: Wie es zum Pensionskassenkompromiss kam. Was derzeit hinter den Kulissen mit dem Bundesrat und dem Arbeitgeberverband über das EU-Rahmenabkommen läuft. Und wofür der neue SGB-Präsident nach dem Frauenstreik eintreten will.

«Ich sage immer, dass sich auch Männer für die Gleichheit der Frauen engagieren können.» ­Gewerkschaftschef Pierre-Yves Maillard im Hauptsitz des Gewerkschaftsbunds in Bern.

WOZ: Herr Maillard, Sie scheinen den Arbeitgeberverband erneut für Kompromisse gewinnen zu können, so etwa mit Ihrem kürzlichen Deal zur Sanierung des Pensionskassensystems. Wie haben Sie das geschafft?
Pierre-Yves Maillard: Dieser Erfolg hat nicht viel mit mir zu tun. Viel entscheidender ist – neben der Qualität unseres Verhandlungsteams – das politische Umfeld, das sich gewandelt hat. In den letzten Jahren herrschte im Arbeitgeberverband und in der FDP die Idee des bürgerlichen Schulterschlusses – sie glaubten, dass sie zusammen mit der SVP den politischen Kurs vorgeben könnten. Nun aber scheint der Arbeitgeberverband gemerkt zu haben, dass er ohne uns Gewerkschaften nicht viel bewegen kann.

Ist es Zufall, dass der Deal mit Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt unter Ihnen erreicht wurde?
Die eigene Rolle zu beurteilen, ist immer schwierig – vielleicht hatte das Personal einen gewissen Einfluss. Eine wichtige Rolle spielt die neue Konstellation im Bundesrat.

Sie sprechen von FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter, die eine Überbrückungsrente für ausgesteuerte über Sechzigjährige vorgeschlagen hat – eine Idee, die Sie als Waadtländer Regierungsrat entworfen haben …
Ja.

Der Pensionskassendeal sieht eine Senkung des Umwandlungssatzes vor, der die Rentenhöhe bestimmt. Dagegen haben die Gewerkschaften doch jahrelang gekämpft.
Das Wichtigste für uns ist, dass mit dem Kompromiss die heutigen Rentensenkungen gestoppt werden. Kleine und mittlere Renten könnten so gar leicht steigen. Weil die Renditeaussichten auf den angehäuften Vermögen fallen, sind in den letzten zehn Jahren die realen Renten gesunken. Zudem werden die Leute älter, das drückt auf die Pensionen. Mit dem Vorschlag sollen die Beiträge erhöht werden, so sichern wir die Renten. Zudem wird die zweite Säule solidarischer: Die Zusatzeinnahmen werden mit einem Abzug von 0,5 Prozent auf allen Löhnen finanziert. Gutverdienende finanzieren so fixe Rentenzusätze, die den schlechter Verdienenden zugutekommen.

Profitieren sollen vor allem Frauen.
Ja, es würden 2,7 Milliarden Franken mehr ins System fliessen. Dies käme vor allem Leuten mit kleinen Renten zugute, die Teilzeit gearbeitet haben. Das sind vor allem Frauen.

Mit dem Deal würde statt die AHV die zweite Säule gestärkt. Für Sie kein No-Go?
Der Deal ändert nichts an unserem Einsatz für die AHV, wir werden nach wie vor für sie kämpfen. In der letzten Altersreform 2017 haben wir uns dafür eingesetzt, die sinkenden Renten in der zweiten Säule durch die Stärkung der AHV zu kompensieren. Das hat nicht funktioniert. Ich bezweifle, dass eine radikale Aufgabe der zweiten Säule bei der Basis der Gewerkschaften eine Mehrheit finden würde. Wir müssen etwas gegen die sinkenden Renten tun. Und nimmt man die zweite Säule für sich alleine, gibt es kaum eine bessere und mehrheitsfähigere Reform als die, die jetzt auf dem Tisch liegt.

Letzte Woche hat SP-Sozialminister Alain Berset auch die Eckwerte der AHV-Reform präsentiert, die die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 vorsieht. Der SGB lehnt das ab. Wie weit sind Sie im Kampf gegen diese Rentenaltererhöhung zu gehen bereit?
Das müssen unsere demokratisch gewählten Organe beschliessen. Aber ich spüre eine sehr grundsätzliche Ablehnung dagegen und bin entschlossen, gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters zu kämpfen. In den letzten Jahrzehnten sind viele Frauen in den Arbeitsmarkt eingestiegen, was die Gleichberechtigung gestärkt hat. Gleichzeitig erleben diese Frauen die Ungerechtigkeiten noch unmittelbarer als vorher – etwa dass sie weniger verdienen. Sie sind generell schlechter gestellt – mit Ausnahme des Rentenalters 64. Und nun kommt der Bundesrat und will ihnen diesen einzigen kleinen Vorteil nehmen? Das geht nicht.

Ist das Frauenrentenalter eine rote Linie oder Verhandlungsmasse? Der SGB hat 2017 die gescheiterte Altersreform unterstützt, die im Gegenzug zum Frauenrentenalter 65 höhere Renten bot.
Die Bewegung, die sich am Frauenstreik vom 14. Juni erhoben hat, war unglaublich. Ich mache seit dreissig Jahren Politik und hatte noch nie einen auch nur annähernd so grossen Protest erlebt. An der Demo in Lausanne waren wir mehrere Zehntausend auf der Strasse. Dass der Bundesrat zwei Wochen später eine Vorlage präsentiert, die von den Frauen Einbussen verlangt, ist inakzeptabel.

Die Reform darf unter dem Strich die Frauen also nichts kosten?
Ja. Wir brauchen eine Reform der AHV. Aber es braucht einen Vorschlag, der die Frauen stärkt. Übrigens ist jede Rentenaltererhöhung grundsätzlich fragwürdig, solange es so schwierig ist, nach 55 auf dem Arbeitsmarkt tätig zu bleiben. Ein politischer Konsens wird also schwierig.

Sie sind für das SGB-Präsidium gegen SP-Nationalrätin Barbara Gysi angetreten und gelten deshalb bei einigen als «Frauenverhinderer». Spüren Sie Druck, den Tatbeweis erbringen zu müssen?
Ich sage immer, dass sich auch Männer für die Gleichheit der Frauen engagieren können. Das mache ich. Aber natürlich weiss ich, dass ich hier gewissen Erwartungen ausgesetzt bin.

Zurück zu Keller-Sutters Überbrückungsrente. Warum dieser Erfolg?
Die Unternehmen haben aus der Niederlage von 2014 gelernt: Vor der «Masseneinwanderungsinitiative» der SVP gab es Diskussionen über ähnliche Massnahmen wie heute. Damals meinte der Arbeitgeberverband, dass diese nicht nötig seien, um die SVP-Initiative zu besiegen. Es hat nicht geklappt. Die jetzige Initiative, mit der die SVP die Personenfreizügigkeit kündigen will, wird nicht einfacher zu bekämpfen sein. Die Löhne sind letztes Jahr um real 0,4 Prozent gesunken, gleichzeitig steigen Krankenkassen und Mieten. Gut möglich, dass auch dieses Mal viele Leute ein Zeichen setzen werden. Die Arbeitgeber haben gemerkt, dass man den Leuten etwas geben muss, um ihnen die Angst zu nehmen. Die Überbrückungsrente ist eine gute Idee. Sie kostet höchstens 300 Millionen Franken, bringt aber viel Sicherheit. Es ist für einen Menschen einfacher, frühpensioniert zu werden, als kurz vor der Rente noch Sozialhilfe beziehen zu müssen.

Deshalb hält der SGB auch beim Rahmenabkommen mit der EU am heutigen Lohnschutz fest. Das Abkommen ist somit tot, denn die EU-Kommission will nicht nachverhandeln. Stecken nicht auch die Gewerkschaften im Dilemma? Auch sie brauchen gute Beziehungen zu Europa …
Es ist eine schwierige Situation, ich will das nicht schönreden. Wir haben die Wahl zwischen zwei schwierigen Wegen. Wir können Nein sagen, dann könnten uns in den Beziehungen zur EU schwierige Zeiten bevorstehen. Oder wir können Ja sagen, was jedoch noch schlimmer ist. Denn damit würde unser Lohnschutz Teil der Verträge mit der EU – und damit gefährlich ausgehöhlt. Deshalb müssen wir Nein sagen, auch wenn der Weg steinig ist.

Die Gewerkschaften sagten bis jetzt immer, man müsse nachverhandeln. Haben Sie akzeptiert, dass es keine Nachverhandlungen geben wird?
Nein, ich habe Ihnen nur die beiden Alternativen zu Nachverhandlungen skizziert …

Sie glauben also noch daran?
Das wäre der beste Weg. Die EU kann kein Interesse daran haben, dass sich die Schweiz verstärkt nach neuen Märkten wie etwa China orientiert. Die Schweiz ist vor allem für Nachbarländer wie Deutschland und Frankreich ein wichtiger Handelspartner. Es wäre auch aus Sicht der EU vernünftig, wenn sie nochmals mit der Schweiz verhandeln würde.

Selbst einige Linke sehen noch einen dritten möglichen Weg: dass die Schweiz den Lohnschutz einseitig durch Massnahmen stärkt. Warum lassen Sie sich nicht auf diese Diskussion ein?
Selbstverständlich begrüssen wir jede Stärkung des Lohnschutzes, etwa durch die Förderung von Gesamtarbeitsverträgen oder verstärkte Kontrollen. Das Problem ist, dass bei einem Ja zum Abkommen sämtliche solche Massnahmen dem Abkommen unterstellt würden – auch künftige. Jedes neue Gesetz könnte vor dem gemeinsamen geplanten Schiedsgericht geprüft werden, das sich in seinem Urteil am Europäischen Gerichtshof orientieren müsste. Das ist inakzeptabel. Wir müssen den Lohnschutz weiterhin eigenständig bestimmen können.

Führt der SGB keine Verhandlungen mit den Unternehmen, um trotzdem mögliche Auswege auszuloten?
Wir konnten nun endlich den Bundesrat überzeugen, dass er zusammen mit dem Arbeitgeberverband und uns nach Möglichkeiten sucht, wie wir den autonomen Lohnschutz im bestehenden Abkommen verankern können.

Ein solcher Vorschlag müsste wiederum der EU zur Verhandlung vorgelegt werden …
Ja, natürlich. Dann werden wir sehen.

Sie gelten als «Dealmaker», der die Hand bis weit nach rechts ausstrecken kann. Als Waadtländer Regierungsrat haben Sie ja geholfen, die Unternehmenssteuern von 21,6 auf 13,8 Prozent zu senken. Werden Sie nicht auch diesmal am Ende den Deal suchen?
In meiner Politkarriere gab es Momente, in denen ich Kompromisse gesucht habe, und solche, in denen ich gekämpft habe. Man macht nur gute Kompromisse, wenn man bereit ist zu kämpfen.

Sie werden zum vorliegenden Abkommen niemals Ja sagen?
Selbst wenn ich oder die Leitung des SGB plötzlich die Meinung ändern würde: Dieses Abkommen wird in der Schweiz niemals eine Mehrheit finden. Die SVP hat 2014 alleine gegen alle Parteien und Verbände eine Mehrheit der Bevölkerung überzeugt, gegen die EU zu stimmen. Wie wollen Sie ein Abkommen durchbringen, das die Mehrheit der SP, der Grünen, der CVP und der SVP ablehnt – und gegen das auch die Gewerkschaften, der Gewerbeverband und der Bauernverband sind? Wie kann man denken, dass dieses Abkommen eine Chance hat? Der Vertrag stärkt nur die antieuropäischen Kräfte im Land.

Das Gegenteil ist doch der Fall: Erstmals seit Jahrzehnten wird in der Europapolitik wieder über die soziale Frage gestritten, während die SVP an der Seitenlinie steht.
Das stimmt. Das ist das, was die Linke verstehen muss: Man sollte die soziale Frage nie zugunsten der europäischen Integration opfern. Wie oft wurde den Linken und Gewerkschaftern gesagt, dass es um die grössere Idee des europäischen Friedens gehe und man dafür doch auch Konzessionen machen müsse! Wenn die Linke das tut, stärkt sie die Nationalisten. Das grosse Paradox ist, dass die SVP für Leute, die wegen der EU-Integration soziale Nachteile befürchten, zur alleinigen Alternative würde, obwohl diese neoliberal ist. Mit unserer klaren Haltung holen wir einige dieser Leute zurück.

Sie sind seit einem halben Jahr neuer SGB-Präsident. Was wollen Sie ändern?
Auch wenn der SGB-Präsident gerne als Gewerkschaftsboss bezeichnet wird: Die Positionen des SGB werden von den einzelnen Gewerkschaften definiert. Entsprechend wird es viel Kontinuität geben. Natürlich möchte ich trotzdem Akzente setzen: Ich will mich auf wachsende Branchen konzentrieren, etwa das Gesundheitswesen. Hier werden jährlich Tausende neue Jobs geschaffen. Es sind schwierige Jobs, die schlecht bezahlt sind, in denen vor allem Frauen arbeiten. Wir brauchen hier eine Offensive. Ich will mich auch für die Erhöhung der Kaufkraft einsetzen, wir unterstützen die Krankenkasseninitiative der SP. Und schliesslich die Gleichstellung der Frauen: Hier passiert enorm viel, wir stehen vor spannenden Zeiten.

Die Gewerkschaften haben diese Woche eine ganze Reihe aktueller Forderungen gestellt …
Ja, es gibt ein paar Ideen. Wichtig sind sicher öffentliche Lohnkontrollen und Lohnoffensiven in den Gesamtarbeitsverträgen. Dann braucht es wohl auch soziale Massnahmen wie die Stärkung von Kinderzulagen und Ergänzungsleistungen, die gerade alleinerziehenden Frauen helfen, oder die Förderung von Krippenplätzen. Allerdings hat der 14. Juni gezeigt, dass die Forderungen von den Frauen selbst kommen müssen. Die Arbeit geht weiter. Frauen brauchen mehr Lohn, Zeit und Respekt.

Pierre-Yves Maillard

Nach dem Studium in Lausanne arbeitete Maillard (51) als Sekundarlehrer für Französisch, Geschichte und Geografie. Von 2000 bis 2004 war er Regionalsekretär des Smuv, von 1990 bis 1998 Gemeinderat in Lausanne, von 1998 bis 2000 Grossrat im Kanton Waadt und von 1999 bis 2004 Nationalrat.

Danach leitete Maillard bis 2019 das Waadtländer Gesundheits- und Sozialdepartement. Von 2004 bis 2008 war er Vizepräsident der SP Schweiz. Seit Anfang Mai ist er Präsident des SGB. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in Renens.