China in Afrika: «Es hat nie einen Masterplan gegeben»

Nr. 28 –

Warum sind chinesische Unternehmen in Afrika so stark präsent? Warum gilt das Entwicklungsmodell Chinas dort als sehr glaubwürdig? Für den Columbia-Professor Howard French spielen historische Erfahrungen eine zentrale Rolle.

Nicht nur den Markt in Maiduguri, Nigeria, erschlossen: Tecno ist eine Tochtergesellschaft des ­chinesischen Konzerns Transsion, des grössten Handyverkäufers in Afrika. Foto: Jean Chung, Getty

WOZ: Anfang der neunziger Jahre begann China in Afrika zu investieren. Warum?
Howard French: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten die USA, Europa und natürlich auch Russland ganz andere Prioritäten. Die westeuropäischen Staaten wandten sich Osteuropa zu. Die USA verwickelten sich in mehrere Kriege im Nahen Osten. Afrika stand für China weit offen.

Und so entschied damals die Führung in Beijing, Afrika zu «Chinas zweitem Kontinent» zu machen, wie es im Titel eines Ihrer Bücher heisst?
Nein, anders, als das heute viele glauben, hat es nie einen Masterplan gegeben. Als sich das Land unter Deng Xiaoping auf den kapitalistischen Weg begab, wurden in Shenzhen und anderswo Sonderwirtschaftszonen errichtet, um Kapital anzulocken und Exportgüter zu produzieren. Doch das allein reichte nicht, um die Wirtschaft langfristig zu entwickeln. Dengs Nachfolger, Jiang Zemin, wies kurz nach seinem Amtsantritt Ende 1989 die Führungsebene der Provinzen an, ausserhalb Chinas neue Märkte zu erschliessen und Dinge zu produzieren, die dort nachgefragt werden.

Wie kam man dann aber auf Afrika?
Die Unternehmer erkannten, dass der Kontinent vor ähnlichen Herausforderungen stand wie China in den Jahrzehnten zuvor: Die afrikanischen Staaten wollten ihre kleinbäuerlich geprägten Wirtschaftsstrukturen industrialisieren. Für diese Entwicklung brauchte es insbesondere Infrastruktur: Energie, Städtebau, Verkehrswege. Dass China riesige Bauvorhaben rasch und günstig umsetzen konnte, hatte das Land hinlänglich bewiesen – man denke nur daran, wie die verschlafene Provinzstadt Shenzhen innerhalb einiger Jahre zu einem extrem produktiven, exportorientierten Industriezentrum entwickelt wurde, zu einer Millionenstadt mit Wolkenkratzern. So kam es, dass China sein Know-how im Infrastrukturbereich nach Afrika zu exportieren begann.

Manche sagen, China sei dadurch in Afrika zum bedeutendsten Akteur der Entwicklungszusammenarbeit geworden.
Was China tut, ist sicher keine Entwicklungshilfe. Es ist ein Geschäft, finanziert durch kommerzielle Kredite.

Aber das chinesische Engagement hat doch in verschiedenen Ländern Afrikas die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben, nicht?
Sicherlich, und ich will damit auch nicht sagen, dass westliche Entwicklungshilfe mehr gebracht hätte. Für viele Länder war es auf jeden Fall förderlich, dass es dank China einen Anbieter gab, der die benötigte Infrastruktur rasch und günstig erstellte. Zumindest oberflächlich betrachtet. Denn besonders in den Anfangsjahren waren die chinesischen Bauten oftmals von so schlechter Qualität, dass teure Nachbesserungen notwendig wurden. Für die afrikanischen Regierungen ist es auch attraktiv, dass die chinesischen Angebote keine menschenrechtlichen oder ökologischen Bedingungen beinhalten. Aber Leaks zeigen: Die Verträge, die grundsätzlich geheim sind, beinhalten oft Klauseln, die die unternehmerischen Risiken voll auf die afrikanischen Staaten – und damit die Steuerzahlenden – abwälzen.

Solche Abkommen, wie sie in jüngster Zeit etwa in Kenia geleakt wurden, führen auch dazu, dass sich viele Länder immens verschulden. Von Kenias Auslandsschulden entfallen 72 Prozent auf China. Stellt Beijing den afrikanischen Partnerländern bewusst die «Schuldenfalle», wie das immer wieder gesagt wird?
Ganz bestimmt nicht. Das wäre sehr kurzfristig gedacht. Es könnte vielleicht die eine oder andere Struktur übernehmen, wie dies etwa bei einem Grosshafen in Sri Lanka geschehen ist. Aber die chinesischen Unternehmen sind nach Afrika gekommen, um Geschäfte zu machen. Das ist immer noch so. Dafür sind sie auf ein gutes Image angewiesen. Und dabei geht es längst nicht mehr allein um Projekte in Afrika oder Südasien.

Sondern?
In Afrika hat China quasi das Businessmodell getestet, das nun fast auf der ganzen Welt ausgerollt wird, etwa auch in Griechenland oder Italien: Die BRI …

… die «Belt and Road Initiative» oder «Neue Seidenstrasse». Und wie läuft dieses Geschäftsmodell?
Chinesische Unternehmen, die meist staatlich kontrolliert sind, schliessen mit Regierungen Verträge ab, in denen festgeschrieben ist, dass ein Grossteil der Materialien und der Arbeitskräfte aus China kommt. Chinesische Staatsbanken sorgen für die Finanzierung; sie leihen faktisch Geld an chinesische Unternehmen aus, während die Partnerstaaten die Schuldzinsen übernehmen. Für China läuft es also sehr gut, die Erträge der Investitionen fliessen zu einem grossen Teil zurück.

Mit der BRI baut China seinen globalen Einfluss enorm aus.
In China würde man sagen: Es ist eine Angleichung an die historische Normalität. Jahrhundertelang war China die dominante Wirtschaftsmacht der Welt, bis im 19. Jahrhundert der europäische und später der japanische Imperialismus dem ein Ende setzten. Man sollte dabei die BRI aber auch nicht überschätzen.

Warum nicht?
Die BRI ist nicht viel mehr als ein Slogan, mit dem gegen aussen hin ein profanes Geschäftsmodell verkleidet wird. Selbst höhere chinesische Manager von BRI-Projekten können mit dem Begriff nichts anfangen. Eigentlich handelt China nicht einmal aus einem Bewusstsein der Stärke heraus, sondern im Gegenteil aufgrund grosser Ängste.

Ängste?
Es geht um Demografie. Die Einkindpolitik war Teil der chinesischen Entwicklungsstrategie. Doch nun werden jedes Jahr fünf Millionen Chinesen und Chinesinnen mehr pensioniert, als junge Arbeitskräfte nachrücken. Die stark abnehmende Arbeiterschaft wird eine bald exponentiell ansteigende Rentnerschar unterstützen müssen. Dieses demografische Problem wird China wegen der Einkindpolitik viel stärker treffen als jedes andere Land. Bei der Führung in Beijing herrscht deswegen wirklich viel Nervosität, auch wenn sie das gegenüber der Öffentlichkeit nicht zeigt. China nutzt nun die letzten Jahre mit demografischer Dividende, um seine bald überalterte Gesellschaft zu finanzieren.

Zurück zu Afrika …
Übrigens hat China dank des Bewusstseins für Demografie auch erkannt, dass Afrika der Zukunftsmarkt schlechthin ist. Denn nirgendwo sonst wächst die Bevölkerung so rasch wie hier, und selbst wenn die meisten arm bleiben, rücken gerade viele andere in die Mittelschicht auf.

Und selbst ein Kleinbauer oder eine Slumbewohnerin kann sich eines dieser günstigen chinesischen Mobiltelefone leisten.
Ja, weil chinesische Techunternehmen wie Transsion und Huawei einfache, aber langlebige Geräte anbieten, sind sie sehr erfolgreich. Huawei hat zudem weit über die Hälfte der 4G-Netzwerke Afrikas erstellt und dürfte bei 5G eine noch dominantere Rolle spielen. Die beiden in Shenzhen beheimateten Konzerne haben früh das Potenzial des afrikanischen Markts im digitalen Bereich erkannt. Transsion hat sich gar fast ausschliesslich auf Afrika ausgerichtet.

Wie ist Afrika vom Handels- und Technologiekonflikt, der zwischen den USA und China entbrannt ist, betroffen?
Sollte Huawei tatsächlich keinen Zugriff mehr auf Android oder Google erhalten, sähen sich Regierungen und Nutzer möglicherweise gezwungen, sich für eine rein westliche oder rein chinesische Technologie zu entscheiden. Dann würde wohl Letztere das Rennen machen, weil sie schon so weit verbreitet und günstig ist. Und damit würde sich vielleicht auch das chinesische, zensierte Internet durchsetzen.

Chinas Entwicklungsmodell geniesst in Afrika einige Reputation. Taugt es als Vorbild?
Nun, der Westen hatte Afrika im Zeitalter des Kolonialismus ausgebeutet und dann den unabhängig gewordenen Staaten ein Entwicklungsmodell aufgezwungen, in dem der Staat möglichst keine Rolle spielen sollte. Dabei hatten sich die USA und die europäischen Länder einst selbst dank staatlicher Industriepolitik entwickelt. Es ist also verständlich, dass die heuchlerische westliche Afrikapolitik nicht hoch im Kurs steht.

Aber können afrikanische Länder den gleichen Weg der Industrialisierung beschreiten?
Für viele ist das nicht realistisch. Die zahlreichen Binnenländer haben sowieso kaum eine Chance, solange sie nicht regional integriert sind. Afrika ist zwar ein riesiger und rasch wachsender Markt, aber die afrikanischen Staaten nutzen das Potenzial selbst praktisch nicht. Heute macht jeder Staat einen Deal mit China, anstatt dass sich die Staaten einer Region absprechen, gemeinsam Prioritäten festlegen, verhandeln und auch fordern, dass sie die Kontrolle über die Projekte behalten.

Wie kann sich das ändern?
Es braucht den Druck der Zivilgesellschaft, die Forderung nach mehr Transparenz und eine wirklich nachhaltige Entwicklung. Schliesslich braucht es auch nicht für alles eine grosse Finanzierung von aussen, sondern vor allem einen politischen Willen in Afrika. Etwa um den Bildungsbereich zu verbessern, den Agrarsektor effektiver zu nutzen und den regionalen Handel zu fördern.

Doch auch das politische System Chinas scheint in Afrika hoch im Kurs zu stehen.
Bei gewissen Eliten vielleicht. Autoritär geführte Staaten wie Ruanda oder Äthiopien sind selbst bei westlichen Entwicklungsakteuren sehr beliebt. Denn sie sind verlässlich und bringen rasch Resultate. Aber undemokratische Staaten sind zugleich, weniger kurzfristig betrachtet, sehr krisenanfällig. In Ruanda gab es unter einem autoritären Regime einen unvorstellbaren Genozid, in Äthiopien eine der grössten Hungersnöte der neueren Geschichte. Egal wie gross der ökonomische Einfluss Chinas in Afrika ist: Letztlich ist die Idee der Demokratie weiterhin stark. Das zeigt sich nur schon in den jüngsten Reformen in Äthiopien oder im Revolutionsversuch im Sudan.

Howard W. French

Der 61-jährige Howard W. French ist Professor für Journalismus an der Columbia University in New York und arbeitet selbst als Journalist, Autor und Dokumentarfotograf. Aufgewachsen in Côte d’Ivoire, arbeitete der US-Amerikaner lange Jahre als Auslandskorrespondent für die «New York Times», unter anderem in West- und Zentralafrika, in Japan und zuletzt in China. Bisher sind von French auf Englisch drei Sachbücher erschienen, in denen es um afrikanisch-chinesische Beziehungen geht.