Auf allen Kanälen: Annäherung an «realistische» Utopien

Nr. 19 –

Das neue Onlinemagazin «Was wäre wenn» stellt sich alle zwei Wochen einer neuen Frage. Daraus sollen Handlungsmöglichkeiten und Alternativen hin zu gesellschaftlicher Veränderung abgeleitet werden.

Jede Was-wäre-wenn-Frage nimmt etwas vorweg, das es (noch) nicht gibt. «Was wäre, wenn es keine Gefängnisse gäbe?», ist die erste solche Frage, mit der sich das neue deutsche Onlinemagazin «Was wäre wenn», kurz «WWW», auseinandergesetzt hat. «Ich habe mit grosser Wucht körperliche Gewalt ausgeübt, das erste Mal in meinem Leben», schreibt darin der verurteilte Mörder Pedro Holzhey. Die Anwältin Christina Clemm erzählt im Interview von den Ängsten und Bedürfnissen ihrer MandantInnen, der Opfer. Und die Journalistin Lena Kampf gibt in «Der schöne Schein des Strafens» einen Überblick zu Behauptung und Wirklichkeit im Gefängniswesen.

Die Beiträge verschaffen sich gegenseitig Dringlichkeit. Keiner beantwortet die Frage abschliessend. Manche formulieren einen Anspruch, andere zeigen Perspektiven auf. Im Podcast, der die Gefängnisdebatte bündelt, schliesst Moderatorin Sara Steinert gar mit der Bemerkung, dass man nicht komplett auf Gefängnisse verzichten könne.

Propagierte Alternativen

Gefängnisreform- und Abschaffungsbewegungen gibt es spätestens seit 1968. Auch «WWW» kommt nicht ohne Verweis auf Michel Foucaults «Überwachen und Strafen» aus. Aber laut Raven Musialik, dem einzigen festangestellten Redaktor, denken in Deutschland momentan nur wenige über eine Gesellschaft ohne Gefängnisse nach. «Wir propagieren Handlungsmöglichkeiten und Alternativen», fasst Musialik den Antrieb von «WWW» in einen Slogan.

Alternativen verhalten sich zu einer Realität; ohne die Analyse Letzterer bleiben Utopien Märchen. Es fehlt die Verbindung, die Veränderung ermöglicht: das Handeln. Deshalb ist «WWW» nicht einfach ein Fundus utopischer Zukunftsskizzen, sondern versammelt Recherchen und Perspektiven von Wissenschaftlern, Journalistinnen und Aktivisten. Als Ideengeber fungieren unter anderem der Sozialpsychologe Harald Welzer und der Kulturjournalist Georg Diez – zwei Männer. Mit Musialik sind es drei. Der festangestellte Redaktor verweist auf Gilda Sahebi, die ebenfalls zum Kernteam gehöre. Man sei sich des Männerüberhangs aber bewusst und habe den Anspruch, auch jenen eine Stimme zu geben, die in Debatten nicht oder zu wenig vorkommen: Frauen, Menschen mit Migrationsvorder- oder -hintergrund, Marginalisierte.

Bis Ende des Jahres sei die Existenz von «WWW», das aus einem Topf des deutschen Familienministeriums mitfinanziert wird, gesichert. Bis dahin sollen vorerst im Schnitt drei lange Beiträge pro Woche erscheinen, die sich alle vierzehn Tage mit einer neuen Frage auseinandersetzen. Es gebe noch keine fixe Planung, wann man sich welcher «realistischen Utopie» nähern wolle. Einerseits könnten das konkrete Fragen sein, andererseits Themenfelder, die der Redaktion wichtig erscheinen. Zu Letzteren zählt Musialik die zweite Frage von «WWW»: «Was wäre, wenn es keinen Feminismus mehr bräuchte?»

Diese Formulierung bedeutet eine Positionsnahme. So mancher Wutbürger geht davon aus, dass es den Feminismus nicht mehr braucht. Trotz dieser Miniprovokation weist das offene Thema auf die Grenzen des Magazinkonzepts hin: Manche Beiträge wirken willkürlich gewählt, andere wenig originell. Die gesellschaftliche Debatte wird ja bereits intensiv geführt.

Keine Geschlechter mehr

Umso beeindruckender ist der Text von Bini Adamczak. In «Das Ende der Herrschaft» spielt die linke Theoretikerin über alle Lebensbereiche hinweg durch, wie die postpatriarchale Gesellschaft aussähe: «Gäbe es noch sexualisierte Gewalt, so träfe sie alle Geschlechter gleich selten.» Adamczak braucht viele Konjunktive für viele Prämissen und Eingrenzungen und leitet so her, weshalb es in einer postpatriarchalen Gesellschaft keine Geschlechter mehr gäbe. Diese Gesellschaft könne – so Adamczak – entweder neoliberal oder libertär-kommunistisch organisiert sein. Zweiterem gilt die Sympathie der Autorin. Die Plattform «WWW» verstehe sich nicht als links, sagt Raven Musialik, doch «bei der Suche nach Fragen fällt immer wieder auf, dass fast alle Ideen, die die Gesellschaft demokratisch umgestalten wollen, einen linken Einschlag haben».

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