Hungerstreik in der Türkei: «Im zweiten Monat beginnt der Körper wegzuschmelzen»

Nr. 18 –

In der Türkei protestieren rund 3000 Gefangene mit einem Hungerstreik gegen die Isolationshaft. Der Journalist Nedim Türfent ist einer von ihnen. Alle zwei Wochen schickt er einen Brief aus dem türkischen Hochsicherheitsgefängnis ins Baselbiet.

Auf dem Tisch liegt ein Blatt Papier, auf das abgeschnittene Blumen geklebt sind. Die Couverts daneben tragen alle dieselbe Handschrift. In sorgfältig aufgemalten Buchstaben stehen zwei Adressen darauf: die des Einfamilienhauses nahe Liestal im Baselbiet und jene des Hochsicherheitsgefängnisses in der osttürkischen Provinz Van. «Heute war endlich wieder ein Brief von Nedim im Briefkasten», sagt Cornelia Rohr, an die die Briefe adressiert sind. Seit einem Jahr tauschen sich die 55-jährige Ärztin aus der Schweiz und der kurdische Journalist Nedim Türfent im zweiwöchigen Turnus miteinander aus. Bis letzte Woche hatte Rohr zwei Monate lang nichts mehr von ihrem Brieffreund gehört – seit dieser am 1. März in den Hungerstreik getreten war.

Hungern als letzter Ausweg

Zurzeit befinden sich laut Menschenrechtsorganisationen in der Türkei 2983 politische Gefangene in einem andauernden Hungerstreik, viele weitere beteiligen sich mit Unterbrüchen. Leyla Güven, eine Abgeordnete der kurdischen Oppositionspartei HDP, begann den Streik am 7.  November 2018. Sie fordert, dass die Isolationshaft in den türkischen Gefängnissen aufgehoben wird. Zudem soll dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) Zugang zur Gefängnisinsel Imrali gewährt werden, wo Abdullah Öcalan seit zwanzig Jahren inhaftiert ist. Der Gründer der in der Türkei, den USA und der EU verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK befindet sich seit 2015 in Isolationshaft. Seit 2011 hat Öcalan keinen Besuch mehr von seinen AnwältInnen erhalten. Auch seine Familie durfte er in vier Jahren nur zweimal sehen.

In Solidarität mit Leyla Güven traten Mitte Dezember in Strassburg und Wales weitere fünfzehn KurdInnen in den Hungerstreik, die meisten von ihnen sind mittlerweile gesundheitlich stark angeschlagen. Im Januar wurde Güven aus der Haft entlassen, da sich ihr Gesundheitszustand drastisch verschlechtert hatte. Ungeachtet dessen setzt sie den Streik bis heute fort.

Cornelia Rohr ist erleichtert über die Ankunft des jüngsten Briefs von Nedim Türfent: «Ich hatte schon befürchtet, dass er als Reaktion auf seinen Hungerstreik keine Briefe mehr schreiben darf.» Seit einem Monat hat sich Türfents Gesundheitszustand rapide verschlechtert: In den knapp zwei Monaten seit Beginn des Streiks hat er bereits zehn Kilogramm abgenommen – mehr als zehn Prozent seines ursprünglichen Körpergewichts. Zurzeit wiegt er nur noch 59  Kilogramm. Schwächeanfälle, Schwindel sowie Gedächtnisschwund sind die ersten Folgen des Nahrungsentzugs. «In der Schweiz wäre Nedim unter diesen Umständen bereits ins Krankenhaus eingeliefert worden», so Rohr.

Mehr als acht Jahre Haft

Seit Mai 2016 sitzt Nedim Türfent im Gefängnis von Van – wegen angeblicher «Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation». Doch der wahre Grund für die Haftstrafe ist Türfents Beruf: Der 29-Jährige berichtete für die prokurdische Presseagentur Dicle Haber Ajansi (DIHA) aus dem Osten der Türkei über die militärischen Operationen der Armee gegen die kurdische Bevölkerung. Das sei «Propaganda für die PKK», befand das Gericht.

Der Prozess gegen Türfent war denn auch alles andere als fair. Laut der Organisation International Press Institute (IPI) gaben 20 der insgesamt 21 Zeugen, die gegen ihn ausgesagt hatten, später an, sie seien unter Folter zu den Geständnissen gezwungen worden. Die Urteilsverkündung verfolgte Türfent auf einem Bildschirm in seiner Zelle, da er nicht am Prozess teilnehmen durfte. Er wurde zu einer Haftstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt.

Seine Verzweiflung ist gross. «Weil wir nicht anders können, werden wir die Botschaft mit unseren Körpern übermitteln», schreibt Türfent in seinem jüngsten Brief. Er ist bereit, bis zum Äussersten zu gehen: «Egal, was es uns kostet, wir werden die Stimme und die Luft zum Atmen der zum Schweigen gebrachten Menschen sein.» Ärztin Cornelia Rohr sorgt sich um ihren Brieffreund, denn sie weiss um die körperlichen Folgen eines Hungerstreiks: «Ich habe etliche politische Aktivisten aus der Türkei gesehen, die durch Vitaminmangel Hirnschäden erlitten und schwer behindert wurden.» Bereits in den nuller Jahren hatten in der Türkei über tausend Hungerstreikende gegen die Einführung des sogenannten Zellensystems in den Gefängnissen protestiert. Politische Gefangene wurden fortan in Einzelzellen oder Zellen mit lediglich drei Häftlingen untergebracht, um soziale Kontakte zu minimieren.

Potenziell tödliche Folgen

Auch in Türfents Zelle sind sie nur zu dritt. Flüssigkeit, Vitamine und Salz sind alles, was sie zu sich nehmen. Pro Person erhalten sie täglich eineinhalb Liter Tee mit Zucker, Limonade und das salzhaltige Joghurtgetränk Ayran. Der Bedarf an Elektrolyten sei damit gedeckt, sagt Rohr. Doch die verabreichte Menge unterschreite die empfohlene tägliche Dosis von 300  Milligramm Vitamin B1 – das für Fastende lebenswichtig ist. Zu wenig B1 führe schnell zu irreparablen Schäden an Gedächtnis, Gleichgewicht und Sehkraft.

«Niemand, wirklich niemand kann einem Menschenkörper dabei zusehen, wie er schmilzt», beschreibt Türfent das körperliche Elend. Da die medizinische Versorgung in den türkischen Gefängnissen äusserst mangelhaft sei und die Wärter die Häftlinge häufig absichtlich warten liessen, litten diese teils grosse Schmerzen.

Ein gesunder Körper ertrage den ersten Monat eines Hungerstreiks relativ gut, sagt Ärztin Rohr. «Doch bereits im zweiten Monat beginnt der Körper wortwörtlich wegzuschmelzen.» Erst verliere er Wasser, danach Fettgewebe, schliesslich begännen sich die Schleimhäute, Knochen und Muskeln sowie lebenswichtige Organe selbst abzubauen. Nach zwei bis drei Monaten anhaltendem Hungerstreik müsse auch bei vormals gesunden Menschen jederzeit mit potenziell tödlichen Folgen gerechnet werden.

Seit Cornelia Rohr 1983 als Studentin mit einem Projekt des christlichen Hilfswerks HEKS zum ersten Mal in der Osttürkei war, hat das Land sie nicht mehr losgelassen. Sie spricht fliessend Kurdisch und Türkisch und folgte Türfent anfänglich auf Twitter, um ihre Sprachkenntnisse aufzufrischen. Als sie erfuhr, dass er verhaftet worden war, beschloss sie, ihm zu schreiben.

Heute steht Rohr in engem Kontakt mit Türfents Familie. Durch diese hat sie auch Selman Keles, einen engen Freund Türfents und ebenfalls Journalist, kennengelernt. Keles gelang vor acht Monaten die Flucht in die Schweiz. Er gibt sich überzeugt, dass die Hungerstreiks Wirkung zeigen werden: «Der Preis ist hoch, doch schlussendlich werden wir Erfolg haben.» Keles hofft auf medialen Druck; darauf, dass die westlichen Regierungen den türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan dazu drängen, auf die Forderungen der Hungerstreikenden einzugehen – um so deren Leiden zu beenden. Keles hat auch die Collage aus Blumen, aufgeklebt auf ein A4-Papier, für seinen Freund gebastelt. Denn: «Die Natur vermisst Nedim im Gefängnis am meisten.»