Whistleblowing: Assanges falsches Versprechen

Nr. 16 –

Durch seine Enthüllungen ist Wikileaks-Gründer Julian Assange zur zentralen Schnittstelle der Gegenöffentlichkeit geworden. Wie schon bei den «Pentagon Papers» in den siebziger Jahren spielt die Technik dabei eine entscheidende Rolle.

Daniel Ellsberg – der berühmteste Whistleblower des 20.  Jahrhunderts – war gerade 88  Jahre alt geworden, als ihn die Nachricht von Julian Assanges Verhaftung erreichte. Der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, der sieben Jahre lang in der ecuadorianischen Botschaft in London gelebt hatte, war am vergangenen Donnerstag von britischen Behörden aus dem Konsulatsgebäude heraus festgenommen worden. Ihm droht nun die Auslieferung an die USA.

In einem Interview mit dem Onlineportal «Real News» erinnerte sich Ellsberg an das Netzwerk von AktivistInnen, die ihm 1971 geholfen hatten, die «Pentagon Papers» an verschiedene Pressehäuser zu verteilen und Unterschlupfmöglichkeiten zu organisieren: In jenen Tagen habe man einfach von der Ansicht überzeugt sein müssen, etwas zur möglichst schnellen Beendigung des Vietnamkriegs beitragen zu können. Nicht explizit erwähnt hat Ellsberg im Interview die Technik, die die Leaks überhaupt erst ermöglicht hatte: das Fotokopiergerät Xerox.

Daniel Ellsberg war sozusagen die Chelsea Manning des Vietnamkriegs: Als Angestellter der Rand Corporation, die das Pentagon beriet, hatte er Zugang zu einer geheimen Studie über das US-Engagement in Vietnam. 1967 hatte eine Taskforce im Auftrag von Verteidigungsminister Robert S. McNamara den Vietnamkrieg dokumentiert und analysiert. Die Studie enthielt Beweise, dass die USA bereits vor der offiziellen Kriegserklärung in der Tonkin-Bucht im Norden des Landes einen Angriffskrieg geführt hatten.

Die Killer-App des Bürozeitalters

Auf dem Höhepunkt der Antikriegsproteste in den USA begann Ellsberg, die 7000 Seiten der Studie mithilfe seines Vertrauten Anthony Russo zu kopieren. Jeweils am Abend entwendete er in einem Aktenkoffer einzelne Bünde des Reports und kopierte sie in der Werbeagentur von Russos Freundin in Hollywood. 1971 leakte Ellsberg die Kopien an die Presse. Kurz darauf begann die «New York Times» mit einer Artikelserie, die die Öffentlichkeit über den Inhalt des «Vietnam Archive» informierte. Nach einer Klage des Justizministeriums wurde die Publikation zunächst per superprovisorischer Verfügung unterbrochen, bevor der Oberste Gerichtshof die Publikation – mit Rekurs auf die im First Amendment verankerte Pressefreiheit – schliesslich erlaubte.

Der Ende der fünfziger Jahre auf den Markt gebrachte Fotokopierapparat 914 hatte nach dem schnellen Siegeszug des Kopierers in den Büros einen Beitrag dazu geleistet, mächtige Regierungsapparate herauszufordern. Die Medienhistorikerin Lisa Gitelman hat die berühmteste Fotokopieraktion der US-Geschichte denn auch als «Killer-Applikation des Kopiergeräts 914» bezeichnet – die von Xerox bei der Entwicklung und Vermarktung ihrer Cashcow übersehen worden war. Ohne es zu wissen, hatte Haloid Xerox den Angestellten von Bürokratien in den Geheimhaltungsgesellschaften des Kalten Kriegs ein Selbstermächtigungs- und Transparenzmedium in die Hand gegeben.

Kryptotechnik für Leaks

Die für ihren Dokumentarfilm «Citizenfour» mit einem Oscar ausgezeichnete Aktivistin Laura Poitras hat mit «Risk» – ihrer filmischen Auseinandersetzung mit Julian Assange aus dem Jahr 2017 – ein Dokument der Entfremdung zweier Kampfgefährten vorgelegt. Darin zeigt Poitras den Aufstieg von Wikileaks: von einer Hackerplattform zum Machtfaktor im geopolitischen Gefüge nach dem Kalten Krieg und den Anschlägen von 9/11. Hatte Xerox die Multiplikation und Verteilung der Geheimdokumente im Vietnamkrieg ermöglicht, stellte unter anderem das Anonymisierungsnetzwerk Tor jene aus den Beständen des US-Militärs stammende Verschlüsselungstechnologie zur Verfügung, die die Anonymität der Quellen und die dezentrale Verbreitung der Leaks garantierte.

In ihrem Film zeichnet Poitras das Bild eines Mannes, der keine anderen Regeln als seine eigenen kennt. Sie beschreibt einen Menschen, der – umgeben von getreuen AnhängerInnen – im Untergrund lebte, ständig die Handys und Verschlüsselungen, die Wohnungen, Länder und das Aussehen wechselte und der die Transparentmachung geheimer Informationen zur einzigen Leitmaxime seines Tuns erhob – ungeachtet der Folgen, etwa für InformantInnen wie Manning.

Der hochgradig paranoide Assange war ständig auf der Flucht und lebte zum Schluss auf kleinstem Raum in der Botschaft von Ecuador im Exil, der Handlungsradius auf wenige Quadratmeter geschrumpft. Poitras skizziert ihn entsprechend als einsamen Menschen, der in der Falle sitzt und bloss noch durch das Netz mit der Aussenwelt verbunden ist oder wenn er Besuch kriegt, etwa von Lady Gaga. Die ZuschauerInnen merken spätestens hier: Assange ist längst zum Popstar geworden, der die Verbündeten in Russland und den USA genauso frei wählt und wechselt wie seine Frisur oder Augenfarbe bei der Flucht in die Botschaft.

Julian Assange ist ein moralfreier Hasardeur – und konnte wohl genau deshalb zu einer zentralen Schnittstelle der Gegenöffentlichkeit nach 9/11 avancieren. Bei aller Kritik, die ihm entgegenzustellen ist, gebührt ihm zweifellos Anerkennung – weil er seinen Beitrag dazu geleistet hat, die globalen Operationen der USA transparent zu machen, die sie mit dem «Krieg gegen den Terror» begründeten.

Einzige Widerstandsmöglichkeit

Das Leak eines Videos mit dem Titel «Collateral Murder» durch Manning und seine Verbreitung durch Assange und die Wikileaks-Plattform im Jahr 2010 ist das Post-9/11-Pendant zu den «Pentagon Papers». Die geheime Aufnahme der US-Armee zeigt die Ermordung von mindestens zwölf ZivilistInnen durch Militärhelikopter in Bagdad. Sie steht für jene Operationen, die zwar rechtlich klar gegen Völkerrecht verstossen, sich jedoch jenseits der Aufmerksamkeitsschwelle der Öffentlichkeit und oft auch diesseits des rechtlich einklagbaren Rahmens in sogenannten Legal Black Holes bewegen. Grenzenlose Transparenz war die Waffe, die Wikileaks diesen juristischen schwarzen Löchern entgegensetzen wollte.

Nach den Wikileaks-Enthüllungen ist damit zu rechnen, dass Armeen darauf achten werden, keine Dokumente über ihre Operationen mehr anzulegen. Damit verschwinden auch potenzielle Beweismittel, um das Militär vor ein künftiges Gericht zu bringen. HistorikerInnen werden derweil möglicherweise keine historischen Archive mehr auffinden, um solche Gräueltaten zu untersuchen und der Nachwelt zu überliefern.

Der Versuch der Regierung unter Präsident Richard Nixon, Daniel Ellsbergs Leak der Öffentlichkeit zu entziehen, wurde durch den Supreme Court verhindert. Nach der Verhaftung von Assange hat Ellsberg seine Zweifel darüber geäussert, ob der gegenwärtige Oberste Gerichtshof die Pressefreiheit noch so bedingungslos verteidigen würde wie damals.

Dennoch: Das Versprechen, totale Transparenz und ungehinderte Informationsflüsse führten quasi automatisch zur Herausforderung von Macht und zu mehr Freiheit und Gleichheit, ist falsch. Die Wahrung von Geheimsphären bei Verhandlungen in Zeiten politischer Krisen kann zu Deeskalation und manchmal gar zu freieren Gesellschaften führen, weil die VertragspartnerInnen vor der Aussen- und Nachwelt ihr Gesicht wahren können, wie Slavoj Žižek schon 2011 in «Good Manners in the Age of Wikileaks» argumentiert hat. Zudem ist Wikileaks nicht bloss selbst zum geopolitischen Machtfaktor geworden, sondern hat sich auch bereitwillig und opportunistisch mit Potentaten assoziiert. Dass Assange das Pokerspiel schliesslich verloren hat und fallen gelassen wurde, entbehrt nicht einer gewissen Logik.

Julian Assange wurde letzten Donnerstag von Polizisten aus der Botschaft herausgetragen. Die Szene liesse sich – auch in Anbetracht seines prekären Gesundheitszustands – als seine einzig verbleibende Möglichkeit des Widerstands interpretieren. Es kann der Öffentlichkeit deshalb nicht gleichgültig sein, wenn er an die USA ausgeliefert würde. Auch Chelsea Manning kann Solidarität derzeit gebrauchen. Sie sitzt seit einigen Wochen wieder in Haft, weil sie sich weigert, vor der Grand Jury auszusagen – und die Legalität des nichtöffentlichen Gerichtsverfahrens nicht anerkennt. Sie war vorgeladen worden, um sich im Zusammenhang mit den Dokumenten zu äussern, die sie an Wikileaks weitergegeben hatte.

Monika Dommann ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich.