Hundert Tage Bolsonaro: «Krieg gegen die Armen»

Nr. 13 –

Todesschwadronen in den Favelas, Morddrohungen gegen Andersdenkende: Parlamentarierin Mônica Francisco aus Rio de Janeiro über die Politik des neuen brasilianischen Präsidenten.

Mônica Francisco: «Die Regierung versucht nicht, die sozialen Probleme in den Armenvierteln zu bekämpfen. Stattdessen konzentriert sie sich darauf, die Leute in den Favelas zu kriminalisieren.»

WOZ: Frau Francisco, Sie sind in der Favela Morro do Borel aufgewachsen. Wie hat sich der Alltag dort verändert, seit Jair Bolsonaro Präsident ist?
Mônica Francisco: Mit den Militär- und Polizeiinterventionen hat auch die Gewalt stark zugenommen: Schwer bewaffnete Einheiten sind seither sehr präsent. Zudem haben die Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Brigaden und Milizen die Beziehungen in den Favelas verändert. Auch sie sind gewalttätiger.

Unterstützt die Bevölkerung denn die Interventionen?
Ja, vor allem grosse Teile der Mittelschicht und der politischen Klasse. Sie teilen den Wunsch nach mehr Waffen, einem härteren Durchgreifen gegen die sogenannten Drogenbanden und nach mehr Sicherheit.

Wie erklären Sie sich, dass viele Favelabewohner Jair Bolsonaro gewählt haben, obwohl er sich für ein härteres Durchgreifen einsetzt?
Auch ein Grossteil der armen Bevölkerung unterstützt die Militarisierung. Die Menschen glauben, dass die Präsenz der Militärs zu weniger Gewalt und Korruption führe. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Kirchen, vor allem die evangelikalen. Sie sind besonders in den Favelas stark gewachsen. Einige von ihnen sind gegen Diversität oder die Autonomie der Frauen, die sie als soziale Unordnung betrachten. Aus ihrer Sicht wurde Bolsonaro von Gott gesandt. Ihr Narrativ: Brasilien hat eine Krise der Autorität, und Bolsonaro ist der grosse Vater, der endlich Ordnung schafft. In Wahrheit aber wird ein Krieg gegen die Armen geführt.

Inwiefern?
Die Regierung versucht nicht, die sozialen Probleme in den Armenvierteln zu bekämpfen. Stattdessen konzentriert sie sich darauf, die Leute in den Favelas zu kriminalisieren und mit Gewalt zu kontrollieren. Mit der Begründung, die Bewohner von den Drogenkartellen befreien zu wollen, werden regelrechte Todesschwadronen in die Favelas geschickt. Die Opfer dieser Politik sind auch Hunderte von Unschuldigen, darunter Kinder. Ein Grossteil der beschlagnahmten Waffen aus den Favelas stammt aus Militär- oder Polizeibesitz. Die Gewalt wird also auch von aussen in die Favelas getragen.

Wie werden die hohen Todesraten gerechtfertigt?
Mit dem Kampf gegen die Drogen. Die Tötungen werden in der Regel als «Widerstand mit Todesfolge» registriert. Die ermordete Person wird des Drogenhandels bezichtigt, ihr wird unterstellt, auf die Polizisten geschossen zu haben. Untersuchungen gibt es selten, obwohl immer wieder unbeteiligte Teenager zu den Opfern zählen. Ein junger Schwarzer lebt in Brasilien mit einer viermal höheren Wahrscheinlichkeit, an einem gewaltsamen Tod zu sterben, als ein Weisser.

Das klingt nach einer Zweiklassengesellschaft.
Genau. Viele Brasilianer haben sich noch nicht daran gewöhnt, dass People of Color keine Sklaven mehr sind. Es gibt heute zwar keine Verbotsschilder mehr, die diese Menschen von Privilegien ausschliessen. Implizit sind sie aber noch vorhanden. Der Rassismus ist enorm. Schwarzsein wird häufig gleichgesetzt mit Armut und Kriminalität.

Obwohl mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung People of Color sind?
Ja, natürlich. Brasilien wird grösstenteils von weissen, reichen Männern regiert. Selbst in den Medien sind Afrobrasilianer meist nicht oder nur einseitig dargestellt. Das zeigen etwa die Telenovelas: Eine der beliebtesten Serien, «Segundo sol», spielt im Bundesstaat Bahia, einer Region, die die meisten People of Color ausserhalb Afrikas aufweist. Dennoch sind alle Schauspieler der Serie weiss, die Hauptprotagonistin ist platinblond. Das sagt einiges.

Sie setzen sich als Politikerin stark für afrobrasilianische Frauen ein.
Die Mehrheit der afrobrasilianischen Bevölkerung sind Frauen. Sie sind meist in prekären Arbeitsverhältnissen im informellen Sektor beschäftigt, leben in miserablen Wohnverhältnissen und sind übermässig stark von der Wasserknappheit in den Favelas betroffen. Gleichzeitig haben sie einen sehr schlechten Zugang zu medizinischer Versorgung. Diese Frauen sind also gleich mehrfach diskriminiert: als Frauen, als Women of Color und als arme Frauen. Manche sind wie Marielle Franco zudem alleinerziehend und homosexuell. Gerade deswegen ist ein intersektioneller Feminismus wichtig: Er identifiziert und benennt diese Gewaltformen.

Die Stadträtin Marielle Franco wurde vor einem Jahr auf offener Strasse erschossen. Sie waren ihre Beraterin.
Marielles Arbeit war besonders für die afrobrasilianische Bevölkerung und natürlich für Frauen und LGBTIQ* sehr wichtig. Sie hat diesen Menschen im Parlament eine Stimme gegeben und war damit gewissermassen die Antwort der Bevölkerung auf die staatliche Politik der letzten Jahre. Ausserdem hat sie gegen das repressive Polizeiregime in den Favelas gekämpft. Ihre Ermordung hat viele Leute aufgerüttelt.

Vor zwei Wochen wurden in Rio de Janeiro die mutmasslichen Täter, zwei Polizisten, festgenommen. Einem von ihnen werden Verbindungen zur Präsidentenfamilie nachgesagt.
Der Fall Franco zeigt die Verbindungen, die in Brasilien zwischen der Regierung, dem Sicherheitsapparat und der organisierten Kriminalität bestehen. Bolsonaro steht den paramilitärischen Milizen sehr nahe. Diese agieren am Rand des Staats, pflegen aber Verbindungen in dessen unmittelbares Zentrum. Das ist allerdings alles andere als neu.

Jair Bolsonaro sagt auch, Frauen seien weniger wert als Männer.
Er tritt einerseits für sehr konservative Werte ein. Gleichzeitig ist seine Rhetorik ungeheuer gewaltverherrlichend. Sie richtet sich gegen Frauen, gegen Homo- und Transsexuelle, gegen Systemkritiker. Diesen Hassdiskurs gab es bereits vor seiner Wahl. Er hat sich aber intensiviert.

Mehrere Aktivisten und Politiker sind unter anderem wegen massiver Beschimpfungen und Morddrohungen auf den sozialen Netzwerken aus dem Land geflohen. Haben Sie Angst?
Bolsonaro sagte noch während des Wahlkampfs, eine seiner ersten Amtshandlungen würde sein, die «Roten von der Landkarte zu entfernen». Damit meint er einerseits die Arbeiterpartei PT, andererseits die sozialistische PSOL, Marielles und meine Partei. Solche Worte sind für uns eine offene Drohung und stacheln die Bevölkerung auf. Schon während meines Wahlkampfs erhielt ich diverse Drohungen. Einmal drangen nachts Leute in meine Kirche ein und zerstörten das gesamte Inventar. Ich versuche, trotzdem weiter ein normales Leben zu führen. Aber wie viele andere in der Favela, die ständig der Gewalt ausgesetzt sind, leide auch ich an hohem Blutdruck.

Mônica Francisco ist Sozialwissenschaftlerin, progressive evangelikale Pastorin und seit über dreissig Jahren Aktivistin. Nach der Ermordung der Stadträtin Marielle Franco kandidierte sie 2018 zusammen mit drei weiteren Beraterinnen Francos für den Landtag im Bundesland Rio de Janeiro und wurde gewählt.