Gletscherfotografie: Im Abgrund der eigenen Wahrnehmung

Nr. 50 –

Wie gelangt man als Fotograf über das abgesteckte Viereck des Fotografierten hinaus? Der Solothurner Daniel Schwartz hat mit seinem imposanten Fotoprojekt über die schwindenden Gletscher Antworten gefunden.

Caspar Wolf: «Der Lauteraargletscher mit Blick auf den Lauteraarsattel», 1776. Foto: Jörg Müller, Aargauer Kunsthaus

Einträchtig liegen sie in der Vitrine beieinander: das leicht zerfledderte Buch über die Klimageschichte und die historischen Auswirkungen von Klimaverhältnissen auf den Menschen, eine vergilbte Ausgabe des apokalyptischen Romans «Présence de la mort» des Westschweizer Autors C. F. Ramuz und eine Studie über Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, die zur «Geburt der Dritten Welt» führten. Diese Bücher sind Ausläufer der «Gletscher-Odyssee», einer neuen Ausstellung des weit gereisten Schweizer Fotografen Daniel Schwartz im Bündner Kunstmuseum Chur. Das Herzstück der Schau – wie auch des dazugehörigen Bildbands – sind schwarzweisse Gletscherfotografien, aufgenommen auf vier verschiedenen Kontinenten, von Peru bis zu den Schweizer Alpen. Doch wie die Vitrine beim Eingang zeigt, führt Schwartz’ Projekt immer wieder weit über die schwarz gerahmten Fotografien hinaus, auf denen die schwindenden Gletscher wie schlafende Elefanten aussehen oder sich wie rätselhafte schwarzweisse Zeichenschwärme über das Fotopapier schlängeln.

Waghalsige Schwindelbilder

Schwartz versteht die Gletscher als machtvolle Erinnerungsmetaphern, als archäologische Stätten und als prekäres Klimaarchiv, in dem sich die Erderwärmung sehr augenscheinlich abzeichnet. Dabei hat seine «Gletscher-Odyssee» gerade kein eindeutig fotojournalistisches, wissenschaftliches oder künstlerisches Programm. Vielmehr will Schwartz Fakten schaffen, die sich im Idealfall aus all diesen möglichen Lesarten der Bilder speisen. Und da sich im Gletscherschwund eine viel umfassendere Klimakrise verdichtet, sind die eindrücklichen fotografischen Momentaufnahmen allein auch nicht genug. Man muss immer über den Rand dieser Bilder – und der abgebildeten Gletscher – hinausschauen.

Dieses Ansinnen wurde in Chur direkt in die Ausstellungsarchitektur übersetzt: Die Bilder hängen in relativ kleinen Kabinetten, doch durch die Durchgänge zwischen den Ausstellungsräumen öffnet sich der Blick auf weitere Bilder oder Bildausschnitte, die sich – je nach Standort – zu immer neuen Einsichten und Durchblicken gruppieren. Vor allem aber werden im Bündner Kunstmuseum Schwartz’ Gletscherfotografien, die fast alle während der letzten paar Jahre entstanden sind, gezielt mit Gemälden aus dem 18. Jahrhundert kombiniert.

Landschaftsmaler wie Caspar Wolf bildeten damals zum Teil dieselben Gletscher ab wie nun Schwartz, was heutigen BetrachterInnen eindrücklich vor Augen führt, wie massiv die Eismassen während der letzten gut 200 Jahre geschrumpft sind und wie aus den fetten, fast bedrohlich wirkenden Eiszungen bis heute oft Steinwüsten geworden sind. Der Felsblock auf dem Unteraargletscher etwa, den Wolf gemalt hat, liegt heute auf dem Grund des Grimselstausees. Schwarz und Grau dominieren, wo einst Massen aus Weiss die Maler und die BeobachterInnen der «naturforschenden Gesellschaften» blendeten.

Die Auswahl der Bildperspektiven war damals stark eingeschränkt, die Staffeleien wurden meist am unteren Gletscherende aufgestellt. Bei Schwartz hingegen nähern wir uns den Gletschern von allen Seiten – sogar waghalsige Schwindelbilder hat er angefertigt, bei denen man nicht mehr genau weiss, wo nun unten, wo oben ist. In diesen «Vertigo»-Fotografien wird der Gletscher zum Abgrund der eigenen Wahrnehmung.

Beschränkte Erinnerung

Noch viel tiefer hinein in die grossen Zeitläufe und Zyklen der Gletscher und Eiszeiten gräbt sich das Buch zur Ausstellung, das streckenweise auch die aktuelle Epoche des menschengemachten Klimawandels hinter sich lässt. Die Gletscher werden hier zu bildstarken Platzhaltern für ein jahrtausendealtes Gedächtnis, neben dem die beschränkte menschliche Erinnerung regelrecht verzwergt. Klar wird, in welche gewaltigen Zyklen von Wachsen und Vergehen sich die menschengemachte Erderwärmung hineinfrisst; wobei etwa die Fotografien der zerfetzten Schutztücher auf Teilen des Rhonegletschers vor allem die Machtlosigkeit der menschlichen Reaktion auf diesen anthropogenen Wandel zu belegen scheinen.

Schwartz ergänzt seine eigenen Gletscherporträts im Buch mit historischen Fotografien und wiederum mit alten Gemälden. Gleichzeitig versucht er, mit Reliefkarten, langen Wanderungen und Fahrradtouren die maximale Ausdehnung, die die Gletscher vor ungefähr 20 000 Jahren hatten, als die Walliser und Aargletscher das ganze Schweizer Mittelland bedeckten und der Rheingletscher bis zum Bodensee reichte, abzumessen und erfahrbar zu machen.

Massige Zeugen dieser Ausdehnungen sind die verstreuten Findlinge, die Schwartz ebenfalls in sein Bildarchiv aufnimmt, als letzte sichtbare Überbleibsel der Eisströme im Flachland. Genauso wie er viel jüngere Überreste fotografierte, etwa von Gletscherexpeditionen, die die schmelzenden Eismassen jetzt plötzlich wieder freigeben: der lädierte Feldstecher, ein Ledergurt, Schuhe und Knochen von drei im Jahr 1926 auf dem Aletschgletscher verschollenen Brüdern; oder zerbeulte Agfa-Filmrollen, ein Brillenetui, ein Fotoapparat und ein Hakenkreuzwimpel einer deutschen Himalaja-Gebirgsexpedition am Nanga Parbat aus den dreissiger Jahren. Der Gletscher als archäologische Fundstätte, die ihre Schätze nun an die Oberfläche schwitzt.

Im Felsenmeer untergehen

Ganz klar: Daniel Schwartz, der sich in früheren Projekten auch schon intensiv mit dem Hinterland der Kriege in Zentralasien oder mit der Wasserwirtschaft und -not in Südostasien beschäftigte, ist kein klassischer Bergfotograf. Schönwetteraufnahmen, die uns die immer gleichen Mythen und Idyllen auf die Netzhaut brennen, liegen ihm fern. Stattdessen will er widerständige Bilder herstellen, die auf unterschiedliche Weise «befragbar» sind, wie er an der Medieneinführung zur Ausstellung erklärt. Und er interessiert sich immer auch für die grösseren Zusammenhänge und die politischen Verstrickungen hinter seinen Sujets: für die Gletscher als Wasserspeicher, Bewässerungssysteme und deshalb auch als Streitpunkte für bewaffnete Konflikte, etwa in Afghanistan, diesem von jahrzehntelangen Kriegen versehrten Land, das Schwartz seit vielen Jahren immer wieder bereist hat.

Auch die neuste Fotografie in der Churer Ausstellung stammt aus Afghanistan. Sie ist erst ein paar Monate alt, und wenn man nur flüchtig hinschaut, sieht man darauf einfach eine Geröllwüste und mittendrin einen riesigen Gletschertisch – also eine Felsplatte, die waagrecht auf einem Sockel aus übrig gebliebenem Gletschereis liegt. Wieder so ein Gletscherbild, auf dem das Eis fast ganz verschwunden ist, denkt man. Und übersieht dabei, dass auf dieser felsigen Tischplatte sechs bewaffnete Männer sitzen, als würden sie den Eisblock darunter bewachen oder gar verteidigen. Die sechs Wächter gehen in der grauscheckigen Geröllhalde fast unter und werden so auch zum Sinnbild der übermenschlichen Gewalten, die hier am Werk sind. Beim nächsten Tauwetter wird die massive Steinplatte wohl den abschüssigen Hang hinunterstürzen und im nun komplett eisfreien Felsenmeer untergehen. Eingefroren ist der Gletschertisch dann nur noch im Bild.

Die Ausstellung im Bündner Kunstmuseum Chur geht noch bis am 17. Februar 2019. Das englischsprachige Buch «While the Fires Burn. A Glacier Odyssey» ist bereits 2017 bei Thames & Hudson erschienen und kostet 65 Franken.