Frauenstreik: «Wir haben schon entschieden: Der Streik wird stattfinden»

Nr. 38 –

1991 streikten in der Schweiz die Frauen. 2019 werden sie es wieder tun. Hunderte von Frauen sind bereits enthusiastisch am Vorbereiten – auch wenn sie sich nicht in allem einig sind.

«Der Tag muss magisch gewesen sein»: 1991 streikten 500 000 Frauen. Jetzt scheint die Zeit reif für eine Neuauflage. Foto: Schweizerisches Sozialarchiv, F Fa-0013-045

Léa Burger erinnert sich nicht an den Frauenstreik von 1991 – sie war damals vier Jahre alt. Doch die Bilder und Berichte von dem Tag, als fast eine halbe Million Frauen in der ganzen Schweiz ihre Arbeit niederlegten und sich auf den Strassen versammelten, faszinieren sie. «Ich habe Sehnsucht nach einem Frauenstreik», sagt die 31-jährige SRF-Redaktorin. «Ich möchte an dieser kollektiven Erfahrung teilhaben.» Sie engagiert sich im Zürcher Frauenraum «Fraum», wo regelmässig generationenübergreifende Gespräche veranstaltet werden. «Und fast immer kommt die Rede auf den 14. Juni 1991. Der Tag muss magisch gewesen sein.»

Mit oder ohne SGB

Grassierender Sexismus im Internet, #MeToo, die brutalen Attacken auf Frauen im Ausgang, die sich in letzter Zeit häufen: Die Zeit scheint reif für einen neuen Frauenstreik. Der Enthusiasmus ist gross, besonders in der Romandie. «Schon mehrere Hundert Frauen aus allen Schichten sind aktiv in der Vorbereitung», sagt Michela Bovolenta, Zentralsekretärin der Gewerkschaft VPOD in Lausanne. «Es gibt Gruppen in allen Westschweizer Kantonen und eine Koordinationsgruppe für die ganze Romandie.» Am 1. Dezember wird der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) an seinem Kongress entscheiden, ob er den Frauenstreik unterstützt. Das wäre eine wichtige Hilfe für die Organisation – aber Bovolenta sagt: «Wir haben schon entschieden: Der Streik wird stattfinden.»

Für sie gehe es um zwei fundamentale Fragen, sagt die Fünfzigjährige, die schon 1991 dabei war: «Die Verteilung von Geld und die Verteilung von Zeit.» Sie fordert eine Verkürzung der Erwerbsarbeit: «Wir müssen das Leben ins Zentrum stellen. Dazu gehört der Respekt für Menschen und natürliche Ressourcen. Wir sind zum Beispiel auch solidarisch mit der Bewegung für Ernährungssouveränität.» Bald erscheine ein Westschweizer Mobilisierungsmanifest für den Frauenstreik. «Ausserdem arbeiten die Kollektive an ausführlicheren Texten zu verschiedenen Themen, von Bildung bis Sexualität. Es ist eine grosse Lust da, vertieft zu diskutieren.»

Natascha Wey ist skeptisch, ob ein gemeinsames Manifest gelingen wird. Die Zürcher VPOD-Zentralsekretärin und Kopräsidentin der SP-Frauen hat ein erstes Frauenstreiktreffen in Zürich mitorganisiert. «Vielleicht schränkt es die Bewegung ein, wenn wir versuchen, sie auf einen Nenner zu bringen.» Der Slogan von 1991, «Wenn Frau will, steht alles still», sei ja auch keine inhaltliche Forderung, sondern in erster Linie eine Machtdemonstration. «Dass Frauen die Machtfrage stellen, ist für mich zentral.» Allerdings sei es heute schwieriger, geeint für etwas zu kämpfen. «Wir müssen auch heute noch einfordern, dass Frauen Machtpositionen besetzen, und sie unterstützen, wenn sie es tun. Sonst verlieren wir wichtige Positionen wieder – es stehen immer genug Männer bereit.» Wey vermisst auch den bürgerlichen Feminismus, der 1991 noch viel stärker war. «Frauen wie die CVP-Politikerin Judith Stamm fehlen schmerzlich. Es gibt fast keine bürgerlichen Frauen mehr, die mit feministischen Argumenten etwa die AHV unterstützen. Und wo ist die feministische Friedensbewegung, die gegen Waffenexporte protestiert?»

Nicht immer einig

Sieht die 36-Jährige die Zeit seit 1991 also als Rückschritt? «Nein, natürlich gab es auch Erfolge. Der Zugang zum Erwerbsleben, den sich die Frauen erkämpft haben, der Ausbau der Kinderbetreuung – auch wenn es unglaublich langsam vorangeht.»

Anja Peter ist genau hier skeptisch: «Frauen sollen heute möglichst viel Erwerbsarbeit leisten, um ökonomisch unabhängig zu sein. Meine Erwerbsarbeit leiste ich auf Kosten schlecht bezahlter Frauen, die meine Kinder betreuen und meine Wohnung putzen. Trotzdem bleibe ich abhängig, weil mein Lohn nicht reicht, um mich und meine Kinder zu versorgen.» So gehe es vielen Frauen, sagt die 38-jährige Berner Historikerin und Mutter von drei Kindern. «Frauen, die Kinder, Kranke und Alte betreuen, sollen anständig bezahlt werden. Wir müssen aufhören, erwerbstätige Frauen gegen hausarbeitende Frauen auszuspielen. Alle Frauen arbeiten unheimlich viel und stehen unter Druck. Wir müssen zusammen streiken.»

Zusammen mit vier weiteren Aktivistinnen hat Peter im September ein erstes Berner Frauenstreiktreffen organisiert – auf einem Spielplatz. Über zwanzig Interessierte seien gekommen, darunter auch Frauen, die sich zum ersten Mal politisch engagierten.

Anja Peter war elf, als ihre Mutter, eine Primarlehrerin, streikte. Sie erinnert sich an die Feststimmung in den Strassen Winterthurs, wo sie aufwuchs – und dass sie mit ihrer Mutter stritt, weil sie den ganzen Tag dabei sein wollte. «Sie sagte, sie betreue heute keine Kinder.» Der Streik sei sehr dezentral und selbstorganisiert gewesen: Frauen in den verschiedensten Berufen heckten eigene Aktionen aus. «Ich glaube, auch nächstes Jahr wird es nur so funktionieren.»

Gerade die unterschiedlichen Positionen machen die neue Frauenstreikbewegung aus. Alle vier Frauen betonen, dass ihnen Vielfalt am Herzen liege und es keine Wortführerinnen gebe: «Mir ist es wichtig, Zerwürfnisse zu überwinden», sagt Léa Burger. «Differenzen anzuerkennen und sich doch zusammen zu organisieren.» Die nächsten Monate könnten spannend werden.