Mosul nach der Befreiung: Drei Jahre Hass, Horror, Hölle

Nr. 21 –

Neun Monate ist es her, seit der sogenannte Islamische Staat aus Mosul vertrieben wurde. Für die irakische Regierung war es ein Triumph über das Böse. Doch wie geht eine Gesellschaft mit den Folgen der Terrorherrschaft um?

  • «Fuck ISIS»: Blick auf den Raum der Al-Nuri-Moschee in Mosul, in dem Abu Bakr al-Baghdadi 2014 den Islamischen Staat ausrief.
  • «Wir arbeiten daran, dass die IS-Frauen zurückkommen können»: Abdulrahman al-Dschuburi.
  • Chadidschah, eine von Tausenden Frauen, deren Männer sich einst dem IS angeschlossen hatten.
  • Ahmad, Bruder des von IS-Schergen erschossenen Muhammad Akram Chdeir.
  • Freiwillige bergen in der Altstadt von Mosul die Leiche eines IS-Kämpfers.
  • In der Altstadt von Mosul.
  • Bei einem Teeverkäufer in der Altstadt: Alle wissen, wo in der Stadt die Massengräber liegen.

Chadidschahs Leben scheint sich auf einen Fluchtpunkt hin verengt zu haben, auf das Innere eines Zeltes, hier im Flüchtlingslager Hammam al-Alil irgendwo im brachen Umland von Mosul. Neun Monate ist es her, seit ihr Schicksal besiegelt wurde, als sie aus einem Haus im Mosuler Al-Midan-Viertel stürzte, das nicht ihr eigenes war. Links und rechts schlugen die Bomben ein, ihr Sohn wurde tödlich getroffen. Ihr Mann war schon ein halbes Jahr früher bei einem Luftangriff getötet worden. Chadidschah und drei ihrer Kinder gelang es zu fliehen.

In ihr Dorf, wo sich ihr Unheil drei Jahre zuvor angebahnt hatte, kann sie nicht mehr zurückkehren. «Ich wollte nicht, dass mein Mann zum Islamischen Staat geht», sagt Chadidschah, die ihren richtigen Namen für sich behalten will. «Doch er hörte nicht auf mich.»

Heute lebt Chadidschah wie eine Aussätzige. Sie ist eine von Tausenden Frauen, deren Männer sich einst dem IS angeschlossen hatten und gestorben sind. Die Frauen leben in Flüchtlingslagern, Zelt an Zelt mit den Menschen, die unter dem IS drei Jahre lang gelitten haben. Viele versuchen, ihre Geschichte für sich zu behalten. Doch meistens wissen die NachbarInnen trotzdem Bescheid.

Manchmal hört Chadidschah die Stimmen der Leute, die am Eingang vorbeilaufen. «IS-Zelt», zischen sie, «IS-Söhne», «IS-Familie». Ein Mann, der ein Stück weiter lebe, beschimpfe sie immer wieder, obwohl er sie gar nicht kenne. Er weiss nur: Ihr Mann war beim IS.

Ist Chadidschah mitverantwortlich für die Grausamkeiten, die der Islamische Staat während dreier Jahre im Irak begangen hat? Oder ist sie selbst ein Opfer? Darf man diese Frage überhaupt stellen? Oder ist vielleicht jede Zeile, die man ihr widmet, eine Verhöhnung der Tausenden, die vom Islamischen Staat unterdrückt, getötet, gefoltert wurden; der jesidischen Frauen, von den Extremisten vergewaltigt; des zweijährigen Jungen, den IS-Kämpfer drei Tage lang auf einer Kreuzung in Mosul liegen liessen, um jeden irakischen Soldaten zu erschiessen, der versuchte, ihn zu retten?


«Er steckt fest», sagt der junge Mann, während er Brocken für Brocken zur Seite räumt. Das Fussgelenk des Skeletts ist in den Trümmern eingeklemmt, der Körper ist nach vorn gebeugt, der rechte Arm angewinkelt vor dem Kopf, als habe sich dieser Mensch in den letzten Augenblicken seines Lebens noch vor den Bomben schützen wollen, die wie Hagel vom Himmel fielen.

Eine irakische Flagge hängt schlaff und zerfetzt zwischen den Trümmern, ein eher tristes Symbol für den Sieg über den IS. Al-Midan war einst das älteste Stadtviertel Mosuls, ja des ganzen Irak. Ein Gewirr aus Gassen und Steinhäusern, thronte das Quartier über dem Ufer des Tigris, der die Stadt in Ost und West teilt.

Es war der letzte Flecken in Mosul, den die irakische Armee nach einem Jahr Kampf, vier Monaten Belagerung und mithilfe Hunderter von Luftschlägen vom IS zurückeroberte. Heute ist al-Midan komplett zerstört.

«Haben wir keine Säcke mehr?», fragt Hajtham al-Hamdani und schaut sich um. «Dann nehmt ihn halt so mit.» Eine der Freiwilligen zieht, bis der Fuss frei ist und der Tote vornüberkugelt, dann schleifen sie die Leiche zu zweit an Armen und Beinen Richtung Strasse. Hamdani schaut ihnen zufrieden nach.

Für moralische Fragen über Schuld und Aufarbeitung hat er keine Zeit. Hamdani, ein dürrer 25-Jähriger mit nasaler Stimme, hat sich – zusammen mit einem Team aus jungen Erwachsenen aus Mosul – ein dringenderes Problem zur Aufgabe gemacht: die Bergung der weit über tausend Leichen, die noch immer in der Trümmerlandschaft von al-Midan liegen.

Eigentlich ist das der Job des Zivilschutzes. 2585 tote ZivilistInnen hat dieser nach eigenen Angaben seit dem Ende der Schlacht aus den Trümmern geborgen. Doch für die Überreste der IS-Kämpfer fühlte er sich nicht zuständig – und stellte die Räumungen Mitte Januar ein. Man wolle keine Ressourcen für die Leichen des Feindes verschwenden – und ein richtiges Begräbnis gönne man ihnen erst recht nicht, sagte der verantwortliche General im Februar der Nachrichtenagentur Reuters.

«Die Leichen müssen weg», sagt Hamdani, «der Gestank reicht bis in die Nachbarviertel, in die bereits die Bewohner zurückkehren.» Seit einem halben Jahr kommen er und seine Frau Sroor al-Hosaini zusammen mit ihrem Team von Freiwilligen mehrmals in der Woche nach al-Midan, zerren Skelette aus dem Schutt, stecken sie in Leichensäcke und deponieren sie am Strassenrand. Dort holt sie das Gesundheitsministerium ab – angeblich, um sie mithilfe von DNA-Proben zu identifizieren. «Tatsächlich werfen sie sie einfach in ein Massengrab ausserhalb der Stadt», sagt Hamdani. Er schätzt, dass zehn bis zwanzig Prozent der Leichen, die sie bergen, ZivilistInnen waren.

Es ist eine ekelerregende Arbeit. Der Mundschutz, den die jungen Erwachsenen tragen, hilft kaum gegen den beissenden Gestank der Verwesung. Ausserdem ist die Tätigkeit gefährlich: Auch wenn das Gebiet eigentlich von Sprengsätzen geräumt wurde, stossen sie immer wieder auf scharfe Sprengfallen, selbstgebastelte Bomben und Handgranaten. Die Trümmerberge sind meterhoch, unter ihnen sollen sich hier noch nicht detonierte Autobomben befinden. Viele der Leichen ehemaliger IS-Kämpfer hätten noch Sprengstoffgürtel am Körper, sagt Hamdani und zeigt auf sieben solcher Gurte, die sie heute gesammelt haben und die jetzt am Strassenrand liegen. «Schau, wenn ich diesen Stecker hier rausziehe», er zeigt auf eine kleine Nadel am Ende des Gürtels, «dann fliegt das Teil in die Luft.»


«Der Islamische Staat ist besiegt», verkündete der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi am 10. Juli 2017. Mosul war Schauplatz der letzten grossen Schlacht gegen den IS im Irak – und die Rückeroberung der ehemaligen IS-Hochburg, in der Abu Bakr al-Baghdadi drei Jahre zuvor sein Kalifat ausgerufen hatte, war für die irakische Regierung ein unmissverständliches Symbol: Die Befreiung Mosuls ist der Triumph über das Böse.

Neun Monate später lässt sich beobachten, wie eine Gesellschaft mit den Folgen einer Terrorherrschaft umgeht, unter der sie drei Jahre lang Hass, Horror, Hölle durchlebt hat.

Leute melden ihre Nachbarn bei den Behörden. Wer auch nur entfernt mit dem IS zu tun hatte, riskiert, verhaftet und im Schnellverfahren zum Tod verurteilt zu werden. Überlebende Verwandte toter IS-Mitglieder wie Chadidschah sind der Willkür von Soldaten und NachbarInnen ausgesetzt, die sich für die Verbrechen des IS rächen wollen. Auf die Frage, was sie mit einem Kämpfer der Terrormiliz tun würden, sähen sie ihn heute auf der Strasse, lautet die Antwort fast immer: Ich würde ihn auf der Stelle töten.


Das Grab von Muhammad Akram Chdeir liegt im Garten eines Hauses, eine schmale Strasse von der Al-Nuri-Moschee entfernt in Mosuls Altstadt. Ein Stein markiert die Stelle, wo er begraben liegt. Es ist längst von Unkraut und Getreide überwuchert.

Sein Bruder Ahmad hatte ihn hier beerdigt, und er wäre selber fast von Geschossen getroffen worden, als er die Leiche von seinem Haus die Gasse entlang bis zum Garten der NachbarInnen trug. Seit neun Monaten wartet Ahmad darauf, seinen Bruder auf dem städtischen Friedhof bestatten zu können.

Muhammad Akram Chdeir war einer dieser Menschen, dessen Geschichte seine Familie, aber auch viele BewohnerInnen der Altstadt erzählen, als wäre sie ein Heldenmythos. Er sei eine Art Robin Hood gewesen, sagen sie, habe Essen vom IS gestohlen, um es den Menschen zu geben, die sich in den vier Monaten und zehn Tagen Belagerung nur noch von Getreidekörnern ernährten. Noch am Tag, an dem er gestorben sei, habe er vielen Familien geholfen zu fliehen. An den Kreuzungen links und rechts hätten IS-Kämpfer Wache gestanden, doch in der Mitte der Strasse konnten die BewohnerInnen unbemerkt durch ein zerstörtes Haus auf die andere Seite zur Armee fliehen.

«Muhammad wollte nicht gehen, bevor nicht alle anderen in Sicherheit waren», sagt Ahmad über seinen Bruder. Er sei bekannt dafür gewesen, allen zu helfen, egal ob jemand ein Kabel verlegen oder vor dem Islamischen Staat fliehen wollte. Doch Spitzel des IS bekamen Wind von der Fluchthilfe. Am späten Nachmittag des 25. Juni 2017 wurde er von einem Scharfschützen des IS erschossen. Einen Tag bevor die Armee das Viertel zurückeroberte.

Ahmed Akram Chdeir sitzt in einem dunklen Raum in seiner Wohnung. Er ist vor zwei Monaten hierhin zurückgekehrt. Vor ihm ausgebreitet liegen die Papiere, die der Anwalt für ihn beschafft hat. Der Brief des Gesundheitsministeriums, der die Todesursache von Muhammad beschreibt, und das Formular der Sicherheitsbehörden, das bestätigt, dass Muhammad kein Mitglied des IS war. Es hat Monate gedauert, bis Ahmad genügend Geld zusammen hatte, um den Anwalt zu bezahlen.

Die Papiere sind nötig, um den Tod seines Bruders amtlich beglaubigen zu lassen. Ohne die Todesurkunde kann ihn Ahmad nicht auf dem Friedhof beerdigen. Und der einjährige Sohn, den Muhammad nur drei Monate lang aufwachsen sah, würde keine Staatsbürgerschaft erhalten, weil Muhammad und seine Frau während der Herrschaft des IS geheiratet hatten und die Regierung die Ehe nicht anerkennt. Wenn Muhammads Tod endlich verbrieft ist, erhält seine Witwe eine finanzielle Entschädigung vom Staat. Denn Muhammad ist als Märtyrer im Kampf gegen den IS gestorben.


Chadidschah im Flüchtlingslager Hammam al-Alil hat nicht einmal mehr einen Ausweis. Vor ein paar Wochen hatte sie versucht, in ihr Dorf ein paar Dutzend Kilometer südlich des Lagers zurückzukehren. Sie wollte zu ihren Eltern. Doch an einem der fünfzehn Checkpoints auf dem Weg sei sie von den Soldaten angehalten worden. Sie hätten ihr den Ausweis weggenommen und nicht zurückgegeben. Chadidschah kehrte zurück ins Camp.

Doch selbst wenn sie es durch die Checkpoints schaffen würde, ist nicht klar, ob sie in ihrem Dorf je wieder akzeptiert werden würde. Die Dorfältesten wollten nicht, dass die Familien der toten IS-Kämpfer zurückkehrten, sagt Chadidschah. Sogar ihre Eltern, die nichts mit dem IS zu tun haben, hätten Angst vor Vergeltung. Sie wagen es nicht, bei den Verantwortlichen darum zu bitten, ihre Tochter zurückholen zu können. Auch Chadidschah hat Angst. Sie will weder ihren Namen noch den Namen ihres Dorfes in der Zeitung lesen – aus Furcht, jemand könnte sie identifizieren und sich an ihr rächen.


In Mosul werden derweilen die Spuren des Kalifats beseitigt, als wollten die Menschen die vergangenen drei Jahre so schnell wie möglich vergessen. Die Leichen der IS-Kämpfer, die überall in der Altstadt lagen, haben die BewohnerInnen nach ihrer Rückkehr in die Einschlaglöcher der Luftangriffe geworfen und die Löcher zugeschüttet. Nichts deutet auf die Massengräber unter den Strassen hin – doch alle wissen, wo sich diese befinden.

An den zerstörten Hauswänden hängen bereits Plakate der KandidatInnen für die anstehenden Parlamentswahlen. Eine merkwürdige Bekundung plötzlicher Aufmerksamkeit sei das, finden viele der in die Altstadt zurückgekehrten BewohnerInnen, wo sie doch von der Regierung bisher keinerlei Unterstützung für den Wiederaufbau ihrer Häuser erhalten hätten.

Manche MosulerInnen geben der Regierung in Bagdad eine Mitschuld daran, dass der Islamische Staat ihre Stadt 2014 so einfach überrennen konnte. Der mehrheitlich schiitischen Armee, die im sunnitischen Mosul nach dem Fall Saddam Husseins jahrelang wie eine Besatzungsmacht aufgetreten war – und die sich 2014 einfach zurückzog und das Feld für die Dschihadisten freigab. Und den korrupten PolitikerInnen, die aus der Stadt flohen, während die BewohnerInnen zurückblieben, und die jetzt wieder von den Plakaten an Brücken und Strassenrändern herablächeln. Als wäre nichts gewesen.


Zwischen den Trümmern von al-Midan ist eine Gruppe Männer in Anzügen mit einem Kamerateam im Schlepptau aufgetaucht. Einer von ihnen ist Omar Thamar Assuma al-Muschahadani, Kandidat in Mosul bei den anstehenden Wahlen. «Ich will mich hier persönlich für die Leistung dieser jungen Menschen bedanken», sagt er in die Kamera. Einer seiner Mitarbeiter schreibt einen Namen nach dem anderen auf vorgedruckte Urkunden, die jungen Menschen sitzen in ihren weissen Schutzanzügen neben den Leichensäcken im Hintergrund.

«Es war das erste Mal, dass sich überhaupt jemand von der Regierung für uns interessiert», sagt Hamdani später belustigt. Er vermutet, dass der Politiker nur wegen der anstehenden Wahlen vorbeigekommen ist. Muschahadani habe jedem von ihnen 25 000 Dinar – rund 20 Franken – geben wollen als Anerkennung für den Dienst des Teams an seiner Stadt. «Wir haben uns bedankt und das Geld abgelehnt», sagt Hamdani. «Wir hätten lieber, dass die Regierung wenigstens unsere Ausgaben übernimmt.» Denn seit sie diese Arbeit machen, bezahlen die jungen Erwachsenen fast alles selber: die Anreise, einen Teil der Masken, die Schutzanzüge. Seit einem Monat stelle das Gesundheitsministerium täglich fünfzehn Leichensäcke zur Verfügung. «Das reicht nicht mal für die Hälfte der Leichen, die wir an einem Tag bergen.»


«Muhammad Akram Chdeir?», ruft Jassem al-Ubaidi. «Seid vorsichtig bei dieser Geschichte. Sein jüngster Bruder war beim IS.» Ali, so der Name des Bruders, habe sich dem IS angeschlossen und sich als Selbstmordattentäter in die Luft sprengen wollen. «Er hat es mehrmals versucht, doch er ist jedes Mal gescheitert», sagt Ubaidi, der sich als Jugendfreund von Ali vorstellt. Als der sich dem IS angeschlossen habe, sei es vorbei gewesen mit ihrer Freundschaft. «Am Ende ist er mit einem Sprengstoffgürtel in Richtung der irakischen Armee gerannt – sie haben ihn erschossen.»

Andere NachbarInnen sagen über Ali, den Bruder des vorgeblichen Helden Muhammad Akram Chdeir, dass er verrückt gewesen sei. So erzählt es bei einem zweiten Treffen auch sein Bruder Ahmad. Es stimme, sagt Ahmad, dass sich Ali dem IS angeschlossen habe. «Allerdings nur zwei Wochen lang. Er schuldete einem IS-Kämpfer Geld, und der lockte ihn damit, dass sie ihm seine Schulden erlassen würden. Als er merkte, dass das nicht stimmte, ist er wieder ausgetreten.» Dass sich Ali in die Luft sprengen wollte, sei nicht wahr. Seit der Befreiung ihres Viertels sei er allerdings verschollen.

Angst vor Repressionen, weil sein Bruder beim IS war, habe er nicht, sagt Ahmad. «Wäre ich sonst in mein Haus zurückgekehrt? Alle hier kennen die Geschichte», sagt er. Dennoch hatte er beim ersten Treffen nichts über seinen Bruder Ali erzählt, ihn bei der Aufzählung seiner Geschwister sogar weggelassen. Als habe es Ali nie gegeben.

Die Bruchlinie zwischen AnhängerInnen und OpponentInnen des IS verläuft quer durch Stadtviertel, sie hat Nachbarn, Freundinnen, Brüder, Kinder und Eltern gespalten. Aus ihren ursprünglichen Vierteln sind die IS-AnhängerInnen verschwunden. Sie leben nur noch in der Erinnerung der Leute fort, die auf Häuser zeigen und ihre Geschichten erzählen. Zum Beispiel auf jenes in der Ecke hinter dem zerstörten Habda-Minarett, dem einstigen Wahrzeichen Mosuls, wo ein Emir des IS lebte. Er konnte in die Türkei fliehen, nachdem er einen General der Armee mit einigen Zehntausend Dollar bestochen hatte.


Das Dorf von Chadidschah liegt ein paar Dutzend Kilometer südlich von Mosul an der Schnellstrasse Richtung Bagdad. Nicht weiter hinter der Kleinstadt Kajara, steht ein Armeefahrzeug quer auf der Strasse. «Eine Autobombe», ruft ein Soldat mit einer Panzerfaust auf der Schulter. Die Strasse sei gesperrt.

Neun Monate nach der Befreiung Mosuls ist der IS zwar besiegt, gänzlich verschwunden ist er jedoch nicht. Die überlebenden Dschihadisten, die nicht fliehen konnten, sind untergetaucht. Überall in der Stadt soll es Schläferzellen geben, und im ganzen Irak verübt der IS regelmässig Anschläge gegen Armeeangehörige und ZivilistInnen.

«Ihr wollt den General nach den IS-Frauen fragen?», sagt ein Mann, der am Steuer eines grossen Pick-ups sitzt. «Ich weiss genau, was er euch sagen wird. Er wird sagen, dass diese Leute niemals zurückkommen sollen. Alle hier denken so, ich auch. Stell dir vor, dein Bruder wurde vom IS getötet. Würdest du akzeptieren, dass die Familie der Täter wieder im Haus nebenan einzieht?»

General Dschumaa Anad al-Dschuburi ist der verantwortliche General für die Dörfer südlich von Kajara. Chadidschah sagt, er sei der Hauptgrund dafür, dass keine der Frauen zurückgelassen werde.

Abdulrahman al-Dschuburi, der Bruder des Generals, öffnet die Tür zum stattlichen Haus. Das Gebäude ist von einer dicken Steinmauer umgeben, vor dem Tor stehen ein paar junge Männer mit Gewehren Wache. Abdulrahman al-Dschuburi kandidiert bei den Wahlen – damit ist er, genau wie sein Bruder, ein potenzielles Ziel für Attentäter des IS.

«Unser Dorf und seine Bewohner sind wie eine grosse Familie», sagt er. Alle gehörten demselben Stamm an. Der IS habe Familien auseinandergerissen, Brüder und Cousins hätten sich gegenseitig umgebracht. «Ein Mann, dessen Sohn beim IS war, verlässt das Haus nicht mehr. Er schämt sich zu sehr, den Angehörigen der Opfer in die Augen zu schauen.»

«Wir arbeiten daran, dass die IS-Frauen zurückkommen können», sagt Abdulrahman al-Dschuburi diplomatisch. Einige seien bereits zurückgekehrt. «Die Frauen, die nichts getan haben, sind herzlich willkommen. Nur jene, die ihre Männer unterstützt haben, nicht.»

Chadidschah wird dennoch nicht so bald zurückkehren. Vor ein paar Tagen, sagt sie, sei eine andere Witwe ins Dorf gegangen. Doch sie sei weggeschickt worden und wenig später wieder im Flüchtlingslager aufgetaucht. «Was soll denn aus meinen Kindern werden, wenn wir die nächsten zehn Jahre hier im Lager bleiben?», sagt Chadidschah. Wenn Tausende Frauen und Kinder wie sie über Jahre von der Gesellschaft ausgeschlossen würden, sagt Chadidschah, würde das dem IS nur in die Hände spielen. Denn nur so war es ihm möglich, 2014 ein Drittel des Irak im Handstreich einzunehmen: indem er die Unzufriedenheit vieler SunnitInnen, die sich unterdrückt fühlten, für seine Zwecke instrumentalisierte.


Über den zerstörten Dächern der Altstadt von Mosul dämmert es. Das Abendlicht fällt in den Innenhof der Kirche, der Boden ist übersät von Abfall und den Überresten verbrannter Bücher. Über dem Altar prangt noch das schwarz-weisse Logo des IS, während im Eingang ein schwarzer Fleck aus Asche und Knochen am Boden zu sehen ist, die Leiche eines IS-Kämpfers, die jemand in Brand gesetzt hat. An der Wand steht wie eine Drohung noch das Graffito, das ein IS-Mitglied einst hinsprayte: «Der Islamische Staat wird bleiben.»

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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