2016 in Aleppo: Die vergessene Stadt

Nr. 51 –

Was bleibt, wenn dieses ohrenbetäubend dröhnende Jahr in wenigen Tagen zu Ende geht? Markiert 2016 das Ende einer Entwicklung oder erst deren Anfang? Britanniens Absage an das Projekt Europäische Union oder Donald Trumps Einzug ins Weisse Haus – beide Ereignisse bedeuten eine historische Zäsur. Doch das eigentliche Symbol des Jahres 2016 ist Aleppo, Syriens einst pulsierende Millionenmetropole: Symbol für eine demokratische Revolution, die im erbarmungslosen Stellvertreterkrieg und in religiösem Fanatismus endet. Aber auch Symbol für das Scheitern der Uno und die Ohnmacht eines Livepublikums.

Nach monatelanger Belagerung ist die jahrtausendealte Handelsstadt an das syrische Regime gefallen. Nach fünfeinhalb Jahren Krieg, einer halben Million Toten und mehr als elf Millionen Vertriebenen hat Baschar al-Assad mit iranisch-russischer Unterstützung die Schlacht gewonnen – wenn auch längst nicht den Krieg.

Das Schicksal der Stadt zeigt das brutale Dilemma dieses Konflikts. Einst wurde hier der Traum von der Revolution gelebt. Doch je erbarmungsloser das Regime die säkulare Opposition attackierte, desto radikaler wurde der Aufstand. Die syrischen DemokratInnen wurden zwischen Islamisten und dem Regime zerrieben, derweil sich Assad und seine Gehilfen als couragierte «Antiterrorkämpfer» inszenierten – bis sie Aleppo schliesslich «befreiten». Dabei war die Behauptung nirgendwo so zynisch wie dort, wo die Uno den Anteil der Dschihadisten unter den Kämpfern auf elf Prozent schätzt. In Aleppo hatte sich während des Arabischen Frühlings eine demokratische Alternative zu Assad erhoben. Diese Alternative ist jetzt begraben unter russischen Bomben. Und die verbliebenen Rebellen werden sich weiter radikalisieren.

Die «Weltgemeinschaft» stritt sich derweil über Interventionen und Handlungsoptionen. Barack Obamas rote Linien, die nicht hätten überschritten werden dürfen, zerfielen zu Staub. Eingegriffen hat niemand. Am deutlichsten zeigte sich dieses Versagen am diplomatischen Theater des Uno-Sicherheitsrats. Mit ihren Vetos führten Russland und China die ganze Institution ad absurdum. Das zweifelhafte Signal: Despoten können sich auf das Recht des Stärkeren verlassen – ganz gleich, wie viele ZivilistInnen sie massakrieren.

Eine Vollversammlung der Uno hätte diese Blockade durchbrechen und Massnahmen beschliessen können, weil sie kein Vetorecht kennt. Ein entsprechender Antrag erfolgte vor zwei Wochen. Aleppo war zu diesem Zeitpunkt praktisch bereits gefallen. Dass nun eine Uno-Mission «die Evakuierung überwachen» soll, ist nach all dem Leid beinahe makaber. Die BeobachterInnen werden Ruinen vorfinden – und bei der Vertreibung Tausender zusehen.

Das Scheitern der Uno zeigt sich auch am Umgang mit den syrischen Flüchtlingen, zu ihrer Rettung fand keine wirkungsvolle internationale Flüchtlingskonferenz statt.

Doch nicht nur die Institutionen versagten, auch war keine Friedensbewegung erkennbar, die Druck aufsetzte. 2003 zogen Massen gegen die US-Invasion im Irak durch die Strassen. Und erst vor wenigen Monaten versammelten sich über 100 000 Menschen gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Die Hilferufe der BewohnerInnen von Aleppo verhallten derweil ungehört. Ihr Schicksal vermochte nur wenige hinaus in die Kälte zu treiben. Offenbar funktionieren Demonstrationen gegen den Krieg nur mit einem guten Schuss Antiamerikanismus.

Da half es auch wenig, dass die internationale Social-Media-Gemeinschaft Krokodilstränen vergoss, als Aleppo schon eingenommen war. Guernica, Srebrenica, Grosny – die Namen von Städten stehen immer wieder für die Verheerungen durch Kriege. Doch auch die Erinnerung an diese Verbrechen ist wirkungslos. Auch wenn sich Nachrichten teils kaum von Propaganda unterschieden: Alle, die es wissen wollten, konnten das Sterben in Aleppo in Echtzeit verfolgen. Aber Hashtags reichen nicht aus, wenn aus Betroffenheit kein lauter Protest erwächst.

«Und Stille gibt es, da die Erde krachte. Kein Wort, das traf», schrieb einst der österreichische Schriftsteller Karl Kraus. Aleppo ist gefallen. Die Stille, die zurückbleibt, ist ohrenbetäubend.