Fussball und andere Randsportarten: Fehlende Demut und Selbstjustiz

Nr. 49 –

Pedro Lenz möchte am Ehrenkodex festhalten

Fussball ist ein archaisches Spiel. Nicht alles, was während eines Spiels auf dem Rasen passiert, ist für Laien nachvollziehbar. Und nicht alle Unsportlichkeiten können von den Referees geahndet werden. Neben all den Pässen, Sprints, Dribblings, Flanken, Schüssen und Toren, die wir Fans sehen und oft auch bewundern, spielen sich auf Fussballplätzen zuweilen Dinge ab, die mehr mit den Abgründen der Psyche als mit dem Spiel an sich zu tun haben.

Gegenwärtig beteiligt sich ganz Fussballspanien an einer Debatte, die mit derartigen, für das breite Publikum kaum wahrnehmbaren Details zu tun hat. Vor bald zwei Wochen begegneten sich die beiden grössten spanischen Klubs zum Direktduell, dem sogenannten Clásico. Real Madrid unterlag gegen seinen Erzrivalen FC Barcelona im heimischen Bernabéu-Stadion diskussionslos mit 0 : 4. Die Barcelona-Angreifer spielten die Abwehr der Madrilenen neunzig Minuten lang schwindlig. Das Resultat war letztlich so klar, dass eigentlich davon ausgegangen werden konnte, es gäbe nach dem Match nicht mehr viel zu diskutieren.

Nun hat aber der FC Barcelona vor dem Sportgericht eine Klage gegen Manolo Sanchís eingereicht. Sanchís gehört zu den unbestrittenen Legenden von Real. Der Fünfzigjährige, dessen Vater in den sechziger Jahren ebenfalls für Real Madrid gespielt hatte, absolvierte zwischen 1983 und 2001 über 700 Spiele für den spanischen Rekordmeister. Inzwischen arbeitet der ehemalige Starfussballer unter anderem als Kokommentator für den traditionsreichen Radiosender COPE. Nachdem nun beim erwähnten Clásico der Mittelfeldspieler Isco von Real Madrid den brasilianischen Superstar Barcelonas Neymar übel gefoult hatte, soll Sanchís das Foul während der Liveübertragung in strafbarer Weise gerechtfertigt haben. Für den Tritt in Neymars Knie wurde Isco direkt vom Platz gestellt. Der Kommentar von Sanchís lautete: «Neymar sollte aufpassen, denn sein Verhalten gefällt mir überhaupt nicht. Er hat noch viel zu wenig eingesteckt. Neymar hat die Grenzen längst überschritten.»

Doch was meinte der Exverteidiger Sanchís, als er so über das Opfer eines bösen Fouls sprach? Er muss den Stil gemeint haben, mit dem Neymar die Überlegenheit seines Teams in den letzten Wochen auf dem Platz zelebrierte.

Als Neymar wenige Tage vor dem Clásico in der Champions League gegen die AS Roma spielte, führte Barcelona schon 5 : 0, als er einen Penalty treten durfte. Dabei versuchte er, den gegnerischen Torhüter zu demütigen, indem er für den Penalty nur einen halben Schritt Anlauf nahm. Der Roma-Torhüter Szczesny bestrafte Neymars Überheblichkeit, indem er den Penalty abwehrte. Doch danach wusch er dem Brasilianer ordentlich die Kappe.

Nach dem Regelbuch ist es nicht verboten, als Star einer hoch überlegenen Mannschaft kleine Showeinlagen wie Absatzpässchen, Penaltys aus dem Stand, akrobatische Ballannahmen oder Ähnliches zu vollführen. Die Spieler der unterlegenen Equipe empfinden ein solches Verhalten jedoch als respektlos. Wer klar führt, so die allgemein verbreitete Meinung unter Fussballprofis und ihren Fans, darf die unterlegene Mannschaft nicht noch lächerlich machen.

Neymar hat auch beim Clásico mehrmals gegen diesen Ehrenkodex verstossen. Und weil Sanchís in seiner eigenen Zeit als Spieler Werte wie Anstand, Ehre und Demut immer hochhielt, ist ihm Neymars Verhalten zuwider.

In vielen spanischen Onlineforen wird nun heftig darüber gestritten, ob es schlimmer ist, im Triumph überheblich zu sein oder am Radio ein schlimmes Foul zu rechtfertigen. Ob Sanchís irgendwann vom Sportgericht für seine öffentlich geäusserten Worte bestraft wird, ist derzeit noch unklar. Ziemlich klar scheint immerhin, dass er sich bei den Fans des FC Barcelona nicht unbedingt sehr beliebt gemacht hat.

Pedro Lenz (50) ist Schriftsteller und lebt in Olten. Zuweilen wünscht er sich, die Welt hätte keine grösseren Probleme als das oben beschriebene.