Bildband «Ich bleibe im Valle Maira»: Was meint ihr mit dem Wort «Natur»?

Nr. 14 –

Hart arbeitende Menschen bringen neues Leben in die vereinsamten piemontesischen Alpen. Ein Bildband würdigt sie mit eindrücklichen Fotos und Texten.

  • «Wir bleiben, um den Berg nicht den Wölfen zu überlassen, weder denen mit zwei noch denen mit vier Pfoten»: Bauer und Käser Jors del Puy. Fotos: Jörg Waste, aus dem besprochenen Band.
  • Biolandbau mit Unterstützung von Freiwilligen aus vielen Ländern: Camilla Piantanida und Monica Colombero.
  • Wildbach im Vallone di Marmora: Die nicht von Menschen gemachte Welt ist hier überall präsent.
  • Blick auf den Monviso: Die Topografie des Valle Maira lockt viele TouristInnen an.
  • Ein Blick auf San Martino Superiore: Hier lebt nur noch eine Handvoll Menschen.

In der Gaststube hängt das berühmte Che-Guevara-Foto an der Wand. Der Bauer bringt die Ziegen heim, die Bäuerin melkt sie. Der Handwerker deckt ein Dach, der Bergführer telefoniert. Im Tal dröhnt der Wildbach, Steinschlag bedroht die Strasse, Gewitterwolken ballen sich zusammen, der Nebel steigt.

Die Siedlungen sind Inseln in einem weiten Raum aus Wald, Steilhängen, Felsen. Anders als im Flachland ist hier die nicht von Menschen gemachte Welt überall präsent, sie lässt sich nicht ignorieren.

Leere Täler, begeisterte Deutsche

Die Schwarzweissbilder des deutschen Fotografen Jörg Waste zeigen Menschen im piemontesischen Valle Maira bei ihren Tätigkeiten, konzentriert, manchmal versunken. Sie kochen in der Berghütte, käsen, graben Kartoffeln aus, töpfern, pflegen die alten Kastanienselven oder verdienen Geld als Lehrer in der Ebene. Wenn Biobäuerin Camilla Piantanida Getreidegarben bündelt – das Umschlagbild –, sieht das aus wie vor hundert Jahren. Wer hier bauert, knüpft in manchem an das Alte an, es geht nicht anders. Zwar gibt es heute Melkmaschinen, Motorsägen und Traktoren. Aber der Berg bleibt steil, die Arbeit hart.

Die italienischen und französischen Südalpen erinnern sehr direkt daran, dass Berglandwirtschaft im globalisierten Kapitalismus keine Chance hat – es sei denn, eine Gesellschaft unterstützt sie ganz bewusst. Italien und Frankreich haben das nicht getan; erst in den letzten Jahrzehnten fliesst über EU-Programme etwas Geld. Doch es ist schon fast zu spät: Viele piemontesische Täler haben in den letzten 120 Jahren mehr als achtzig Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Der Sog der Industriemetropole Turin war enorm, und auch viele, die in den Bergen bleiben wollten, gaben auf – wovon hätten sie leben sollen?

Doch das Valle Maira entwickelte sich anders als die Nachbartäler. Anfang der achtziger Jahre zog das vorarlbergisch-kölnische Paar Andrea und Maria Schneider ins Tal und eröffnete hier eine Sprachschule, später ein Kulturzentrum mit Gourmetküche. Und in den neunziger Jahren machten Ursula Bauer und Jürg Frischknecht mit ihrem Buch «Antipasti und alte Wege» den Maira-Rundwanderweg im deutschsprachigen Raum bekannt. Seither pilgern wanderfreudige Deutsche in Scharen ins Tal, begeistert von der spektakulären Topografie, der Pflanzenvielfalt und dem guten Essen. Für die Ehrgeizigen gibt es die Grande Traversata delle Alpi, die durch die ganzen piemontesischen Alpen und auch quer durch das Valle Maira führt.

Schulen für die Berge

Mit dem kleinen Aufschwung finden wieder mehr Menschen ein Auskommen im Tal. Manche kommen aus der Ebene, auch ein Teil der von Jörg Waste Porträtierten. Zwischen den Fotos kommen sie kurz zu Wort, aber man erfährt etwas gar wenig von ihnen. Und fragt sich: Kann die junge Mutter und Psychologin Sissi Menardo hier in ihrem Beruf arbeiten? Ist der Bauhandwerker Daniele Mattalia selbstständig oder angestellt, und findet er im Tal genug Aufträge? Etwas mehr Information hätte den Alltag der Porträtierten noch näher gebracht und die Kraft der Bilder nicht geschmälert. Auch fehlen Bildlegenden zu den Landschaften.

Kurze Texte des Bergbauern Giorgio Alifredi werfen spannende Fragen auf: «Wir Bergbewohner wussten lange nicht, was mit ‹der Natur› gemeint war, bis die ersten Natur- und Umweltschützer aus der Stadt eintrafen. (…) Die ganze Idee war uns fremd.» Bedenkenswert ist auch seine Forderung einer «Bergschule», «gedacht für Menschen, die hier oben leben wollen, in der die Hände ebenso wertgeschätzt werden wie das Gehirn».

Wenn Alifredi manchmal stadtfeindlich klingt, hat das nichts mit reaktionärer Verklärung des Landlebens zu tun. Es geht vielmehr um ein neues alpines Selbstbewusstsein, um den Wert der Räume weit weg von den Metropolen und den Wert der Arbeit ausserhalb der lukrativen Dienstleistungsbereiche. «Auch heute kann der Berg eine Werkstatt für ein neues Morgen werden.» «Ich bleibe im Valle Maira» zeigt eindrückliche Zeugnisse aus dieser Werkstatt.

Jörg Waste und Giorgio Alifredi: Ich bleibe im Valle Maira. Lebensperspektiven in einem rauen Land. Rotpunktverlag. Zürich 2015. 156 Seiten. 33 Franken. Italienisch und Deutsch