Stadtentwicklung: Widerständiger wider Willen

Nr. 42 –

Willi Horber hat bald zehn Jahre lang gekämpft. Nun hat das Bundesgericht entschieden: Die letzten Arbeiterhäuser im Herzen von Zürich West müssen abgerissen werden. Eine Geschichte über das Älterwerden in einem immer jünger werdenden Quartier.

Nach 44 Jahren muss er hier weg: Willi Horber vor dem Haus an der Turbinenstrasse 12 in Zürich West.

«Hier soll die Strasse durchgehen», sagt Willi Horber und zeigt auf das Haus, in dem er seit 44 Jahren wohnt. Gelassen erklärt er den Sachverhalt: Für das neue Quartier in Zürich West braucht es eine Erschliessungsstrasse. Zwei alte Arbeiterhäuser stehen im Weg. Zwar wäre es durchaus möglich gewesen, eine Strasse um die Häuser herum zu bauen, doch das Bundesgericht hat nun entschieden, dass dies zu umständlich wäre für den Verkehr. Kurz, die Häuser müssen weg.

«Eine gewaltige Ungerechtigkeit», findet Horber. Er spricht sanft, nicht zornig, wie ein Mann eben, der weiss, dass er recht hat. «Es geht mir einfach gegen den Strich, dass die Stadt über die Köpfe der Menschen hinweg plant.»

Eine recht düstere Gegend

Horber ist Pragmatiker. Mit politischem Protest will er nichts zu tun haben, auch wenn ihn die Medien oft als Helden des Widerstands inszeniert haben. Nicht ohne Pathos schrieben die JournalistInnen von den Zürcher «Nagelhäusern», wenn sie Horbers Zuhause meinten – in Anlehnung an ein Gebäude im chinesischen Chongqing, dessen standhafte BewohnerInnen sich weigerten, für ein Einkaufszentrum ihr Häuschen aufzugeben. Der Vergleich passt nicht ganz. Denn Horber sagt, die Arbeiterhäuser an sich bedeuteten ihm nichts. «Ich fühle mich einfach wohl in meiner Wohnung.»

Mit 76 Jahren muss er nun ausziehen. Den Abriss findet er lediglich schade. Dabei hätte er allen Grund, wütend zu sein: Mehr als sein halbes Leben hat er an der Turbinenstrasse verbracht. Die Häuser stehen schon viel länger da – sie wurden 1893 erbaut. Zwar ist die Farbe an der Fassade abgeblättert, aber der Stein, der darunter hervortritt, wirkt so robust, als könnte er jeder Abrissbirne standhalten. Ein Taxi hält vor dem Hotel Renaissance, sonst ist der Turbinenplatz an diesem Dienstagnachmittag menschenleer. Allein steht Horber vor den Hochhäusern. Die Szene wirkt so steril wie in einem Modell, doch das moderne Zürich West ist Realität.

Als Willi Horber 1970 mit 32 Jahren an die Turbinenstrasse zog, gab es im Quartier ausser der Industrie fast nichts. Horber entwickelte als wissenschaftlicher Assistent künstliche Gelenke. «Ich dachte, ich bleibe höchstens zwei Jahre hier», meint er. Damals bezahlte er 
für seine Dreizimmerwohnung 140 Franken, Zürich West war noch kein Trendviertel. Wenn um fünf Uhr die ArbeiterInnen nach Hause gingen, war das Quartier ausgestorben. «Es war eine recht düstere Gegend.» Es gab kaum Läden, lediglich ein paar Beizen an der Hardstrasse. Die Steinfels AG produzierte dort noch Seifen aus altem Fett. «Das hat gestunken.»

Heute riecht es am Turbinenplatz nach frischen Brötchen. Ausser einer Bäckerei hat sich bis jetzt keine andere Ladenzeile vermieten lassen. «Hier ist ein seelenloses Quartier entstanden», bemerkt Horber. Das Industriequartier trägt die Industrie nur noch im Namen, aus dem Stadtbild ist sie verschwunden. Die Maschinenfabrik Escher-Wyss ist weg, der Prime Tower wirft seinen Schatten auf das Areal.

Die Veränderung habe mit der Fussball-Europameisterschaft 2008 angefangen, die unter anderem in Zürich ausgetragen wurde. «Dann ging alles Schlag auf Schlag.» Fabriken wurden abgerissen, alle Grünflächen zubetoniert, gläserne Türme hochgezogen. «Früher gab es auf dem Areal noch einen Teich. Im Frühling haben hier Enten gebrütet.» Horber erzählt, wie die Küken bis vor einigen Jahren noch durchs Quartier watschelten. Er lächelt.

Heute leben vor allem Studierende in den alten Häusern an der Turbinenstrasse. Sie ziehen ein – und nach kurzer Zeit wieder aus. Horber wusste also, dass er derjenige sein würde, der Einspruch erheben musste, als er 2005 zum ersten Mal die Skizzen der StadtplanerInnen sah. «Es hat mich nicht besonders gereizt, aber jemand musste es halt tun.» Er sah nicht ein, weshalb die geplante Strasse nicht verlegt werden konnte. Es folgte eine juristische Odyssee, die Anfang Oktober vor Bundesgericht ihr Ende fand. Die oberste Instanz hat entschieden: Horbers Idee, eine Strasse um die Gebäude herum zu bauen, führe zu einer unübersichtlichen Verkehrssituation, daher müssten die Häuser weg.

Fast zehn Jahre lang hat Horber gekämpft, doch in seinen Augen war es kein politischer Widerstand. «Im Gegenteil», bemerkt Horber und spricht lauter. «Verstehen Sie, ich wollte nur, dass die Sache von Richtern objektiv beurteilt wird. Ich bin kein politischer Kämpfer gegen den Kapitalismus oder so.» Er habe nichts gegen den Markt. Hätten die Bauherren die Häuser einfach gekauft, so hätte er keinen Grund gehabt, sich zu wehren. «Das wäre dann einfach der Lauf der Modernisierung gewesen.»

Immer wieder wurde er von linken Gruppierungen angegangen, die ihm Unterstützung anboten. Aber das wollte er nicht, und jetzt sei die Sache sowieso gelaufen. Horber zuckt mit den Schultern: «Was soll ich denn – den Prozess nach Strassburg weiterziehen?» Die Idee amüsiert ihn, er beginnt zu lachen. Und winkt sogleich ab: «Nein, das ist keine Option.»

Mit Kritik hält sich Horber stets zurück. Ausser wenn es um die Sozialdemokratie geht. «Mit der habe ich nichts am Hut.» Wenn jemand in die Zange genommen werden müsste, dann die PolitikerInnen. Schliesslich seien all diese Pläne unter einer rot-grünen Regierung entstanden. Josef Estermann, Elmar Ledergerber und Corine Mauch haben sich für sozialen Wohnungsbau eingesetzt. «Aber eigentlich haben sie Häuser aufgekauft und billige Wohnungen abreissen lassen.» So auch an der Turbinenstrasse, wo nun sechzehn günstige Wohnungen verschwinden. Zwar sind in Zürich West in den letzten Jahren viele neue Wohnungen entstanden, doch sie sind teuer und lassen sich nur schlecht vermieten. Von rund 500 leer stehenden Wohnungen in der Stadt befindet sich fast ein Viertel im ehemaligen Industriequartier.

Umzug nach Schwamendingen?

Horber ist kein klassischer Gentrifizierungsgegner, wie einige Medien suggerierten. Er sieht einfach nicht ein, weshalb die Stadt stur behauptet, die Häuser würden im Weg stehen. Von nun an werden ihn die Zeitungen wohl in Ruhe lassen. Für Horber endet hiermit der Kampf.

Er will sich jetzt der Wohnungssuche widmen, denn er kann höchstens noch drei Jahre an der Turbinenstrasse bleiben. Fremde Leute hätten ihm schon Briefe geschickt mit Wohnungsangeboten. «Das ist nett», findet Horber. Aber die Vorschläge seien nicht passend gewesen. Eine Wohnung wäre beispielsweise in Schwamendingen gewesen – aber in der Agglomeration zu leben, könne er sich nicht vorstellen. «Ich bleibe Stadtzürcher bis zum Schluss.»