«Watermarks»: Eintauchen in China

Nr. 45 –

Der Schweizer Dokumentarfilmer Luc Schaedler hat Menschen in China besucht, für die sich dort niemand interessiert. Entstanden sind berührende Porträts aus einem Land im Umbruch.

Davon weiss seine Enkelin nichts: Li Yuming erzählt in «Watermarks» über die Gräuel während der Kulturrevolution. Still: Go between films

Ein Film über Wasser? Hätte «Watermarks» ursprünglich werden sollen. Allerdings nicht über Ökosysteme oder Umweltschutz, sondern über Wasser an sich – seine Bedeutung für die Menschen, die Beziehung der Menschen zu ihm.

Die Drehorte dafür waren gut gewählt: Der erste Teil von «Watermarks» spielt in der trockenen nordwestchinesischen Provinz Gansu, in einem Dorf, aus dem die meisten Familien wegen der Wasserknappheit und Wüstenbildung schon längst abgewandert sind oder umgesiedelt wurden. Der zweite Teil führt in ein idyllisches Dorf in der – zumindest bis zur Ernte, für die die Reisfelder trockengelegt werden – fast vollständig unter Wasser stehenden südchinesischen Provinz Guangxi. Der dritte Teil spielt in der Millionenstadt Chongqing, die nicht nur am Zusammenfluss des Jangtse und des Jialing liegt, sondern in deren Verwaltungsgebiet sich auch der gesamte Drei-Schluchten-Stausee befindet.

Die ChinesInnen, die in «Watermarks» zu Wort kommen, unterscheiden sich mindestens so stark wie ihre Heimatprovinzen. In Gansu treffen wir eine junge Familie, in der sie unbedingt in einer Stadt leben und er lieber auf dem elterlichen Hof bleiben will. In Guangxi erzählt ein alter Parteikader von früher. In Chongqing versucht eine androgyne Person, die noch bis vor kurzem mit ihren (Adoptiv-)Eltern auf einem kleinen Fischerboot lebte, ihren eigenen Weg zu finden.

Ausgeleierte Baumwollunterhosen

Drei ganz verschiedene Geografien, drei ganz verschiedene Biografien. Unvergessliche Bilder sind bei der Arbeit an diesem Dokumentarfilm entstanden. In Gansu dominiert Staub – Staub bei der Ernte auf dem Land, Staub beim Verladen von Kohle. In Guangxi schreiben sich Bilder von mageren alten Männern ins Gedächtnis, die nur mit ausgeleierten Baumwollunterhosen bekleidet einen Teich leer fischen. Während Chongqing als graue Welt in Erinnerung bleibt.

Was aber bei so grossen räumlichen Abständen und drei Generationen – verständlicherweise – nicht entstehen konnte, das ist ein richtiger Zusammenhang. Und so erzählt «Watermarks» auch keine fortlaufende Geschichte, sondern besteht, wie der Untertitel «Three Letters From China» andeutet, aus drei einzelnen Berichten. Das Einzige, was die Hauptpersonen überhaupt miteinander verbindet, ist ihr Mangel an formaler Bildung und einflussreichen Beziehungen – und, daraus folgend, ihre Marginalisierung in der chinesischen Gesellschaft.

Einer Gesellschaft, in der «Menschen wie sie» zwar die Mehrheit stellen, aber eine nicht zu Wort kommende Mehrheit sind. Kaum jemand interessiert sich für sie. Das wird im Film deutlich, als die junge Mutter in Gansu sagen soll, was sie denn, ausser «in der Stadt zu arbeiten», noch für Träume habe: Sie beginnt zu weinen. Oder als sie mit ihrem dreijährigen Sohn telefoniert, der bei den Grosseltern auf dem Land ist: Sie will unbedingt von ihm gesagt bekommen, dass er sie vermisst – und verspricht ihm dafür, ein «Auto» mitzubringen.

Was die Menschen erzählen

Weil sich der Dokumentarfilmer Luc Schaedler (Drehbuch, Regie, Kamera) und sein Mitarbeiter Markus Schiesser (Interviews, Ton) darauf eingelassen haben, dass die porträtierten ChinesInnen nicht über ihre Beziehung zum Wasser sprechen wollen, sondern ganz andere Sorgen hatten, die ihnen viel mehr am Herzen lagen, ist «Watermarks» kein Film über Wasser geworden. Doch gerade weil sie nicht an ihrem ursprünglichen Ziel festhielten, gelang es den beiden Schweizern, eine enge Beziehung zu den Menschen in China aufzubauen.

Was ihnen die junge Mutter in Gansu über ihre Überlegungen aus der Zeit vor der Hochzeit erzählt, das hat (wahrscheinlich) ihr eigener Ehemann noch nie gehört. Und was der alte Parteikader über die Grausamkeiten während der Kulturrevolution (1966–1976) berichtet, das wird – das sagt er selber – seine eigene Enkelin nie erfahren. Es passt nicht zu dem, was sie in der Schule lernt.

Ein solches Vertrauen aufzubauen, war, vor allem wegen der immer präsenten Kamera, nicht einfach – doch was dabei herausgekommen ist, ist so interessant, dass das einzige Überbleibsel der ursprünglichen Idee eher stört: einige Sequenzen mit Wu Dengming, dem kürzlich verstorbenen Chongqinger Umweltaktivisten und Gründer der Chongqing Green Volunteer League.

Schaedler und Schiesser halten sich selbst sehr angenehm im Hintergrund. An keiner Stelle gerät der Film in Gefahr, dem Publikum China erklären zu wollen. Es kommen nur ChinesInnen zu Wort, deren Aussagen über ihr eigenes Leben dann so stehen gelassen werden. Gleichzeitig tun Schaedler und Schiesser aber auch nicht so, als hätten sie keine Rolle gespielt. Zum Beispiel wenn sie filmen, wie ihnen der alte Bauer in Gansu die guten (gekauften) Äpfel hinstellt – in einer so einkommensschwachen Familie würde Obst sonst nicht auf den Tisch kommen. Oder wenn sich der Bauer am Lenker seines Zweitakter-Lastdreirads umdreht und Schaedler bedeutet, er solle jetzt, wenn sie gleich durchs Tor fahren, den Kopf einziehen (Schaedler ist knapp zwei Meter gross). Und wenn die junge Person in Chongqing sagt, sie möchte jetzt nicht mehr gefilmt werden, geht nach einer kurzen, für die Übersetzung notwendigen Pause die Kamera aus.

Mit solchen Szenen machen die Regisseure dem Publikum klar, dass nicht gefilmt werden kann, ohne dadurch etwas zu verändern. Gleichzeitig lassen sie bei den ZuschauerInnen so das Gefühl entstehen, man sei beim Drehen mit dabei gewesen.

Was die Kamera sichtbar macht

Das Ergebnis von «Watermarks» lässt sich vielleicht am besten mit dem «I Ging» verdeutlichen, dem Buch der Wandlungen, das als ältester der klassischen chinesischen Texte gilt: Es erstellt, obwohl es auf einem uralten Orakel aufbaut, keine unabänderlichen Weissagungen. Es soll lediglich dabei helfen, die aktuelle Situation klarer zu sehen – einschliesslich der darin bereits angelegten Tendenzen.

Der Riss, der schon durch die junge Familie geht; die unverarbeitete Grausamkeit, die an einem der landschaftlich schönsten Orte Chinas verübt wurde und bis heute ein Zusammenleben im Dorf schwierig macht; die Probleme, die auf Jugendliche zukommen, die im heutigen China nach alternativen Lebensentwürfen jenseits von Hochschulzugangsprüfung, Wohnungskauf und traditionellen Geschlechterrollen suchen: All das ist in «Watermarks» zu erkennen.

Vielleicht, um einen aktuelleren Vergleich zu wählen, verhält es sich auch so wie mit den Wasserzeichen in Geldscheinen und Dokumenten. Bei nur oberflächlicher Betrachtung oder zu wenig Licht sind sie nicht zu sehen. Aber wer sich die achtzig Minuten Zeit nimmt und sich von Luc Schaedlers Kamera führen lässt, der erfährt viel über Chinas Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und, zumindest wenn «Umwelt» weiter gefasst wird als sinkende Grundwasserspiegel und abnehmende Fischbestände, sogar eine ganze Menge über ihren Einfluss auf das Leben von Millionen von Menschen in China.

Vorpremieren in Anwesenheit des Regisseurs am Donnerstag, 7. November 2013, 
um 21 Uhr im Kino Xenix in Zürich, am Sonntag, 10. November 2013, um 11.15 Uhr im «kult.kino» in Basel und am Dienstag, 12. Novembe 2013, 
um 18.30 Uhr im «cineMovie» in Bern. 
Ab 14. November 2013 in den Kinos.

Watermarks. Regie: Luc Schaedler. Schweiz 2013