AKW-Arbeiter: Die Nomaden der Nuklearwirtschaft

Nr. 36 –

Eigentlich lieben sie ihre Arbeit und wollen alles tun, damit die AKWs sicher sind. Doch die Männer, die während der Revisionsarbeiten von Atomkraftwerk zu
Atomkraftwerk ziehen, geraten bei ihrer gefährlichen Arbeit immer mehr unter Druck. Der belgische Filmemacher und Nuklearchemiker Alain de Halleux hat die Geschichten französischer AKW-Arbeiter aufgezeichnet.

Ein AKW ist erst mal eine gigantische Klempnerei. Kilometer von Rohren verflechten sich auf einer Oberfläche so gross wie ein Fussballfeld. Alle achtzehn Monate müssen die Brennelemente ausgewechselt werden. Da dabei der Block abgestellt ist, kann er gewartet werden. Dabei müssen sämtliche Teile überprüft werden, die hohen Temperaturen, starkem Druck und speziell der Radioaktivität ausgesetzt sind, die die Korrosion beschleunigt.

Die Arbeit, die hier anfällt, ist kolossal. So greifen die AKWs jeweils auf externe Kräfte zurück, auf Unterhaltsfirmen. Dort sind die verschiedensten Berufe vertreten: Mechaniker, Elektriker, Kesselschmiede, Armaturentechniker. Zur Seite stehen ihnen Strahlenschutzspezialisten, und man trifft auch auf die Spezialisten für Dekontamination. Ihre Aufgabe ist es, jene Bereiche zu dekontaminieren, in denen nachher die Arbeiter mit den verschiedenen Handwerksberufen tätig sind. Wenn es die Umgebung verlangt, tragen sie «Mururoa» –dichte Kombinationsanzüge, mit sauberer Luft gefüllt. Andere Arbeiter legen Bleidecken über die Rohre, um die Strahlung zu begrenzen.

Eine der gefährlichsten Tätigkeiten üben die Wärme­dämmer aus. Die Aufgabe dieser Männer ist es, die Isolationen an den Rohren zu ersetzen. Die Techniker, die die radioaktiven Teile der Anlage überprüfen müssen, bekommen gleich zweimal etwas ab: nicht nur die allgemeine Radioaktivität an den Örtlichkeiten, sondern auch noch jene aus den Kobaltquellen, die zum Einsatz kommen, um an Leitungen Radioskopien vorzunehmen, um festzustellen, was repariert werden muss. Kurz: Die Arbeit in einem AKW unterscheidet sich kaum von der Arbeit in der Petrochemie oder einer anderen Schwerindustrie, ausser eben: dass sie in einer radioaktiven Umgebung stattfindet.

Um den Kontrollbereich zu betreten, jene Zonen, wo ionisierende Strahlung vorhanden ist, brauchen die Arbeiter eine spezielle Bewilligung und werden mit Kontrollgeräten ausgerüstet. Das Dosimeter misst die tägliche, ein Filmdosimeter die monatliche Dosis, die sie abbekommen. Mitarbeiter des Strahlenschutzes überwachen die Radioaktivität und sorgen dafür, dass die auf dem Gelände geltenden Regeln beachtet werden.

Einer von ihnen erklärt uns: «Man muss zwischen ­Strahlung und Kontamination unterscheiden. Man spricht von Strahlung, wenn ein Arbeiter mit einer radioaktiven Quelle konfrontiert wird. Die Gefahr verschwindet, wenn er sich von der Quelle entfernt. Von Kontamination spricht man, wenn radio­aktiver Staub die Haut des Arbeiters verseucht oder solcher Staub von ihm eingeatmet oder eingenommen wird. Das ist gravierend, weil radioaktiver Staub im Körper weiterstrahlt.»

Unter der Führung der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) haben die Kontrollbehörden Grenzwerte festgelegt. Michel Lallier, Exchemiker in Chinon: «Diese Norm ist aufgrund der Erkenntnisse aus Hiroshima und Nagasaki vereinbart worden. Man untersuchte die Überlebenden der Atombombenabwürfe und leitete aus dem Ergebnis ab: Wenn jeder Beschäftigte über vierzig Jahre hinweg 20 Millisievert (mSv) pro Jahr abbekommt, also 800 mSv, kommt es bei zusätzlich vier bis fünf Prozent zu einer Krebserkrankung. Im Prinzip heisst das, dass man diese vier bis fünf Prozent als ‹gesellschaftlich tolerierbar› betrachtet. Die Norm beruht also nicht einfach auf Expertenwissen, sondern enthält auch eine gesellschaftliche Bewertung. Diese Norm gibt nur einen Grenzwert an, den man nicht überschreiten darf, bedeutet aber nicht, dass es, wenn sie eingehalten wird, keine Gefahr gäbe.» In ganz Europa sind die Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, diese Norm einzuhalten. Ein notwendiges Arbeitsinstrument ist für sie also das Dosimeter der Arbeiter.

Der Fluch der Subunternehmen

Philippe Billard ist Strahlenschutzexperte. Zurzeit ist er von Entlassung bedroht, weil er Missstände aufdeckte. Er verlangt eine stärkere Berücksichtigung der Krankenakten, die übrigens häufig unsorgfältig geführt werden. Die Schwierigkeiten mit der zulässigen Strahlendosis haben die AKW-Betreiber dazu bewogen, mit Subunternehmern zusammenzuarbeiten. Billard sagt:

«Die Strahlendosis macht den Arbeitgebern Probleme, denn sie nimmt sie in die Verantwortung. Also haben sie ein System aufgezogen, mit dem sie die Spuren verwischen können. Ich habe selbst für zwei Subunternehmen gearbeitet. Musste ich eines Tages einen Krebsfall melden, so hatte ich mich an eine Firma zu wenden, die unterdessen in Konkurs gegangen war. Seit sie grossen Konzernen gehören, versuchen die Subunternehmen wie auch die Électricité de France (EDF) sich aus der Affäre zu ziehen. In Frankreich gibt es vier grosse Konzerne: GDF-Suez, Spie, Onet und Areva. Diese arrangieren sich untereinander, sodass wir jedes Mal, wenn wir diesen Markt hinterfragen, vom einen zum andern weitergereicht werden. Sie mischen die Karten immer wieder neu. Das Subunternehmertum ist somit selbst ein Risiko.»

Gerade das hat Pierre Lambert erlebt. 1988 ist er Froschmann bei der belgischen Taucherfirma Atlas Diving, die ein paar Jahre später selbst untergehen wird. Er hat einen Einsatz im Brennelementbecken des AKWs Chooz, um den Durchgang zu befestigen, der Becken und Reaktor verbindet. Dabei wird er mit Kobalt verseucht. Nach der medizinischen Untersuchung spricht die AKW-Werksärztin folgende Warnung aus: «Es besteht ein Risiko, dass Sie in einigen Jahren Leukämie bekommen.»

2003, als er in Afrika arbeitet, erkrankt Pierre wie angekündigt an Leukämie. Nach einer Leidenszeit von anderthalb Jahren hat er die Krankheit überwunden. Nun möchte er gegen die EDF vorgehen. Seine Krankenakte ist aus den EDF-Archiven verschwunden. Glücklicherweise kann Pierre für seinen Auftrag im AKW Beweise erbringen. Sein Anwalt schreibt der EDF. Und dann: «Was für eine Überraschung! Ich erhalte ein Schreiben des Anwalts der EDF Assurances, das besagt, dass die zivilrechtliche Haftung bei Nuklearfällen von Regeln bestimmt wird, die von den allgemeinen zivilrechtlichen Haftungsregeln abweichen. Gemäss Artikel 15 des Gesetzes aus dem Jahr 1968 verjähren Ansprüche auf Schadenersatz nach zehn Jahren!»

«Heute geht es nur noch ums Geld»

Man will die Lebenszeiten der AKWs verlängern, doch diese werden mit zunehmendem Alter immer stärker verseucht. Immer mehr Radioaktivität sammelt sich in den Kreisläufen und im Metall der Rohre des Primärkreislaufs an. In den Schutzmänteln, die den radioaktiven Brennstoff unter Verschluss halten sollen, kommt es zu Rissen, es werden Alphateilchen freigesetzt. Diese höchst kontaminierenden Teilchen sind noch schwieriger erkennbar als Gammastrahlen, denn die Dosimeter zeigen sie nicht an.

In den Umkleideräumen, wo die Arbeiter ihre Jeans ablegen und in ihren weissen Schutzanzug schlüpfen, wird heftig diskutiert. Da wird gemeckert und geschimpft. Jahrelang haben sie geschwiegen und ihren Arbeitsplatz verteidigt, anders als ihre Vorgänger in den Minen, aber um den Preis, von der Geschichte vergessen zu werden. Heute nun treten sie aus dem Schatten heraus. Etwas Wichtiges ist geschehen und hat die Situation verändert.

Serge Serre, Führungskraft einer Gesellschaft für Nuklear­logistik, sitzt mit seinen beiden Freunden José und Michel vom AKW Cruas zusammen. Sie diskutieren:
«Früher freute man sich, zur Arbeit zu gehen, und wenn man sie erledigt hatte, war man stolz auf das Geleistete. Die Stimmung war ausgezeichnet. Heute ist es nicht mehr so. Man könnte sagen: Es wird alles unternommen, uns die Lust an der Arbeit zu verderben.»

«Genau. Wenn ich auf dem Weg zum AKW war, schaute ich, ob die Kühltürme dampften. Wenn nicht, sagte ich mir: Oha, da ist ein Block ausgefallen. Bevor ich den Kontrollraum betrat, machte ich jeweils einen kleinen Rundgang, um das Brummen und Vibrieren der Maschinen zu hören. Ich brauchte das, um zu wissen, wie es um den Reaktor stand.»

«Heute geht es nur noch ums Geld. Ich bin mir nicht sicher, ob man alles tut, damit die Jungs, die da schuften, ihre Maschine gernhaben können.»

Zu einer rapiden Verschlechterung des Klimas kam es 1996, als eine erste europäische Direktive die Büchse der Pandora öffnete: mit der Liberalisierung des Energiemarktes in der gesamten EU. Der Liberalismus hatte das ökonomische und soziale Leben schon geprägt, bevor Margareth Thatcher britische Premierministerin wurde, doch 1996 kommt es zu einer entscheidenden Wende. Man wirft die letzten Regulierungs- und Kontrollinstrumente über Bord. Die AKWs werden teilweise privatisiert und entziehen sich somit künftig den allzu neugierigen Blicken von PolitikerInnen und BürgerInnen.

Laut Michel Lallier, dem Gewerkschaftsvertreter des AKW Chinon an der Loire, ist der Anteil der beschäftigten Subunternehmen von zwanzig Prozent in den 1990er-Jahren auf heute über achtzig Prozent angestiegen. Viele Arbeiter müssen von AKW zu AKW ziehen. Man nennt sie die «Nomaden der Nuklear­wirtschaft». Diese Subunternehmensstruktur hat nicht nur unzulässige soziale Konsequenzen für die Arbeiter selbst, sondern wirft auch bezüglich der Sicherheit und Langlebigkeit der Einrichtungen Fragen auf.

Michel Lallier sagt: «Die Subunternehmensstruktur führt nicht nur zu einer Verlagerung der Verantwortung, sondern auch zu einem Wissensverlust. EDF-Angestellte, die in Pension gehen, werden heute durch neue EDF-Angestellte ersetzt, die selbst nicht mit den konkreten Arbeitsabläufen vertraut sind, aber Leute kontrollieren sollen, die sich auskennen. Und so sagen sich viele Arbeitnehmer bei den Subunternehmen: Was soll dieser Kerl, der mich kontrollieren will, aber nichts von der Sache versteht?»

Die Arbeit des klassischen AKW-Arbeiters geht zunehmend an einen Nomaden über, der von aussen kommt, nach der Erledigung seines Auftrags wieder geht und nur sehr wenig konkret abrufbares Wissen über das betreffende AKW mitnimmt. Anders gesagt: Das kollektive Wissen über ein AKW verliert sich in der weiten Landschaft. Niemand hat mehr einen Gesamtüberblick über die Lage in einem AKW, das dem Alzheimer anheimfällt. Annie Thébaud-Mony, Arbeitssoziologin an der Universität Paris 13, teilt diese Ansicht und betont, dass eine solche Organisation der Arbeit die ganze Verantwortung dem einzelnen Arbeiter zuschiebt:

«Wenn man den Arbeiter selbst unterschreiben lässt, dass er seine Aufgabe gemäss den geltenden Regeln erfüllt und erledigt hat, bedeutet das, dass man die Verantwortung an ihn delegiert. Das heisst auch: Wenn es eines Tages zu einem Problem kommt, schaut man auf der Liste nach, wer zu jenem Zeitpunkt gerade im Einsatz war. Der, der unterschrieben hat, ist dann auch verantwortlich. So verschwindet gleichsam alles hinter einer administrativen Bestätigung von Unterhaltsarbeiten, vorgenommen von Arbeitskräften, die nachher europaweit über alle Berge verschwunden sind. Ein unglaublicher Vorgang.»

«Keine besonderen Vorkommnisse»

Besonders erbaulich ist in diesem Zusammenhang die Geschichte von Christian Ugolini. Der heutige Filmemacher arbeitete früher für ein Subunternehmen und war noch bis vor drei Jahren Strahleninspektor, bis seine Mitwirkung an einem Film des TV-Senders Canal+ zu seiner Entlassung führte. Seine Arbeit bestand darin, die Schweissnähte an den Ventilen der Leitungen und Rohre mit radioaktiven Kobaltquellen zu überprüfen. Er zeigt uns die Aufnahmen, die er heimlich im Reaktorbecken gemacht hat. Dann erzählt er:

«Man betraut dich mit einer Arbeit in einem Bereich, der für die Sicherheit höchst relevant ist. Aber gleichzeitig verlangt man von dir, dass du deinen Prüfungsrapport mit RAS (die Abkürzung für «rien à signaler» – keine besondere Verkommnisse) unterschreibst, auch wenn es Defekte gibt. Ich kann das bezeugen, denn es ist mir passiert, und man hat mich unter Druck gesetzt. Doch was heisst hier Druck? Ich befinde mich auf einer Baustelle im Innern des Reaktorgebäudes, im Herzstück, wo es grosse Ventile gibt, die völlig verrottet sind. Es stinkt nach Tod, da wimmelt es nur so von Becquerel und allem, was du willst, da strahlt es vor sich hin, dass es nur so zum Kotzen ist. Du bist verpflichtet, einen Mururoaanzug zu tragen. Ich entdecke also, dass da ein Riss sein könnte, und sage: Scheisse! Die Armaturentechniker stehen alle daneben und warten, bis ich fertig bin, damit sie nach Hause können; es ist fünf Uhr abends. Ich wiederhole die Kontrolle und kassiere also nochmals eine Dosis. Ich sage den Armaturentechnikern: Geht nicht, wir können den Rapport nicht unterschreiben. Sie spinnen wohl!, heisst es dann, das ist kein Riss! – So nicht, meine Lieben, wir sind Profis und können feststellen, ob es sich um einen Riss oder einen Kratzer handelt; der Sachverhalt ist klar, es wird nicht unterschrieben. – Aber wir müssen zurück, unsere Chefs brüllen uns sonst an; wir sind angehalten, zügig zu arbeiten, es warten weitere Aufträge, wir haben kein Ersatzmaterial hier, und wenn Sie einen Riss melden, wissen Sie genau, dass man uns dann heisst, denselben Hahn wieder zu montieren, oder? – Auch wir sind verpflichtet, unsere Chefs zu benachrichtigen, die dann verlangen, dass wir die Kontrolle unter ihren Augen wiederholen. Der Chef, der über die Abschaltung des Blocks bestimmt, hört so was nicht gerne und kommt dann auch hinzu.

Über Stunden haben wir die Kontrolle dann vier- bis fünfmal wiederholt, dabei habe ich nochmals die vier- bis fünffache Dosis abbekommen, während alle einen Indianertanz aufführen und sagen: Ihr seid übereifrig, es gibt keinen Defekt. In solchen Situationen gibt es immer welche wie mich, die hartnäckig bleiben und sagen: Nein, ich unterschreibe den Rapport nicht! Obwohl ich weiss, dass die nächste Prüfung ein anderer macht und den Rapport unterzeichnet. Aber es gibt eben Leute wie mich, die ihren Job tun. Ob du nun zu denen gehörst, die bereitwillig unterschreiben oder nicht, alle wissen, dass es hier überall gigantische Probleme gibt; alle Arbeiter wissen, was für ein Saustall da herrscht und dass es so nicht mehr weitergehen kann. In den Umkleide­räumen triffst du auf Arbeiter, die echt sagen, es brauche mal ein Tschernobyl in Frankreich, damit man wieder auf korrekte Art arbeiten könne. Bist du dir bewusst, was das bedeutet?»

Wer sich wehrt, wird entlassen

Serge Serre war Vorgesetzter bei Cime, einer Unterhaltsgesellschaft der EDF. Er wurde entlassen. Serres Schuld war, dass er schwere Störfälle gemeldet hatte: «Mehrmals war es bei meiner unterbesetzten Equipe zu Unfällen gekommen. Da ich mich für meine Männer verantwortlich fühlte, habe ich die Direktion wiederholt darauf aufmerksam gemacht. Meine Schreiben wurden nicht beantwortet. Ich entschied mich, bei den Kontroll­behörden offiziell vorstellig zu werden. Ich leitete also ein Verfahren ein, das ausdrücklich geschaffen wurde, damit die Arbeiter jede Art von Störfall melden können. Mein Anliegen wurde registriert und als ‹gut begründet› bezeichnet. Die Kontroll­behörde führte eine Untersuchung durch. Wenige Wochen später bekam ich das Entlassungsschreiben. Begründung: ‹schwerwiegendes Fehlverhalten›. Man warf mir auch ‹zweideutiges Verhalten› vor, eine vage Formulierung, die meine Chefs nie näher erklärten. Ich begriff nicht, was los war. Diesen Schlag ins Gesicht hatte ich echt nicht erwartet. Ich hatte das getan, um Verbesserungen zu erreichen, und gemäss dem Pflichtenheft gehandelt, damit wir unsere Arbeit im Auftrag der EDF korrekt ausführen können. Ich habe drei Kinder. Meine Frau arbeitet immer noch im AKW. Sie war Vorgesetzte wie ich, aber nachdem ich Alarm geschlagen hatte, wurde sie gemobbt. Man hat sie degradiert und entzieht ihr Verantwortung. Wir waren eben erst von Bugey hierhergezogen, weil meinem Unternehmen der Vertrag mit dem AKW Bugey gekündigt worden war, und ich hatte hier in der Nähe von Cruas ein Haus gekauft und wollte mich da einrichten. Jetzt weiss ich nicht, wie ich das finanziell bewältigen soll. Meine Zukunft? Keine Ahnung. Ich fühlte mich wohl bei der Atomindustrie. Ich mochte meine Arbeit. Ich bewerbe mich, aber nach 22 Jahren in der Nuklearwirtschaft bin ich ausgebrannt und habe keine Ahnung, was ich sonst noch tun könnte. – Ob sich was ändern wird? Es muss, denn so kann es nicht weitergehen. Ich wage gar nicht, daran zu denken, wohin das führen könnte. Man muss darüber reden! Die Medien müssen sich endlich auch mit uns beschäftigen, denn die berühmte Transparenz der EDF ist eine Einbahnstrasse.»

Jean-Luc Lacroix arbeitet im AKW Cruas: «Es war vor zehn Jahren, da war ich noch jung und schön (er lacht). Mein Chef fordert mich auf, den Betonbunker zu betreten, der den Reaktor umgibt. Der Reaktor war natürlich stillgelegt, sonst wäre ich jetzt nicht mehr da und könnte das nicht mehr erzählen. Ich sollte an einem Spotlicht unten an der Wanne die Kabel verschieben, in die eine Türe einschnitt. Ich gehe hinein, packe den Spot und verschiebe ihn, als mein Dosimeter plötzlich Alarm schlägt. Ich verlasse den Raum schleunigstens. 340 Millisievert, das bedeutet ein Drittel der Dosis, der ich im Verlauf meiner ganzen Karriere überhaupt ausgesetzt sein darf. Ich informiere meinen Chef, und der sagt: ‹Scheisse, ich habe vergessen, dass es da Kobaltstrahlung gibt! Gib mir dein Dosimeter und deinen Film aus dem Filmdosimeter, ich schicke sie sofort ins Labor.› Naiv wie ich bin, glaube ich ihm. Ich habe noch Vertrauen in die Hierarchie. Ich bin aber dennoch beunruhigt und will am nächsten Tag wissen, ob ich nicht untersucht werden muss. Ich erkundige mich beim Chef nach den Ergebnissen aus dem Labor. Da sagt er mir: ‹Es gibt keine, das Zeug ging irgendwo unterwegs verloren.› An den folgenden Tagen fragt mich die Direktion, was ich mit meinem Dosimeter und dem Film gemacht habe. Sie glauben mir meine Geschichte nicht. Sie sind überzeugt, dass ich sie bescheissen wollte. Wenn du in einem AKW eine zu hohe Dosis abbekommst, bist du immer selbst schuld, und man herrscht dich an, denn dann müssen Rapporte gemacht werden, und das ist nicht gut für die Statistik … Kurz: Über Wochen und Monate hat man mich gemobbt. An einem bestimmten Tag wurde es mir zu viel. Ich packte einen Amboss, befestigte ihn an meinem Fuss und sprang in die Rhone. Was dann passierte, weiss ich nicht mehr. Der Überlebensinstinkt. Es gelang mir, den Amboss loszumachen, obwohl ich ihn gut befestigt hatte, und wieder aufzutauchen. Seither kämpfe ich für die Würde der Arbeiter, dass man ihnen gegenüber Respekt zeigt. Ich kämpfe für dieses verdammte AKW, an das ich glaube. Denn es ist möglich, Atom­energie zu erzeugen und auf den Menschen Rücksicht zu nehmen. Ich war in einer EDF-Schule, mein Vater war bei der EDF. Wir sind es, die dieses Unternehmen ausmachen, nicht die Aktionäre!»

Ein Selbstmord und ein Fastunfall

Patrick ist fünfzig Jahre alt und trägt seine langen weissen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Seiner Meinung nach sind wir in einem Zug unterwegs, der mit Volldampf fährt, den der Lokführer aber klammheimlich verlassen hat. Vor etwas mehr als einem Jahr hat sein bester Freund, der wie er selbst bei der AKW-Steuerung tätig war, Selbstmord begangen. Als Patrick davon erfuhr, wurde er wütend. Er und seine Gewerkschaftskollegen beschlossen, die Leistung herunterzufahren, also den Reaktor, und damit auch die Stromproduktion zu verlangsamen. Patrick sass in der Befehlszentrale. An diesem Tag war er der Einzige, der ermächtigt war, am Schaltpult zu wirken. Aus Wut fuhr er die Leistung etwas zu schnell herunter. Der Reaktor geriet während 9 Minuten und 46 Sekunden ausser Kontrolle, was einen europäischen Rekord darstellt. In der Befehlszentrale stieg die Nervosität. Die Direktion und die Ingenieure standen um ihn herum, setzten ihn unter Druck, wieder Vernunft anzunehmen. Schliesslich gab er nach, denn die Situation wurde gefährlich. Darauf kam es zu einer Untersuchung des Vorfalls, und Patrick fiel in eine schwere Depression.
Dekontaminationsfachmann Philippe Billard fügt hinzu:

«Man spricht zurzeit viel über die Selbstmordfälle in Chinon, aber solche gibt es auch bei den Subunternehmen, nur hört man davon weniger. In Paluel zum Beispiel gab es dreizehn Suizide, darunter war auch mein Kollege Dédé, der sich in seinem Auto von einer Klippe stürzte. Wenn man nicht mehr auf die Stimmen und Ratschläge jener hört, die die Arbeit konkret bewältigen, fährt man die Karre gegen die Wand. Vergessen wir nicht: Wenn wir heute über sichere AKW verfügen, dann gewiss nicht dank unserer Arbeitgeber, sondern dank der Beschäftigten, die da arbeiten, deren Bedeutung in Sachen Sicherheit aber nur noch als zweit- oder drittrangig erachtet wird. Sie aber sind für die Betriebssicherheit entscheidend. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist und nicht auf Verbesserungsvorschläge dieser Akteure hört, fährt man direkt in die Wand.»

Zwei Jahre lang habe ich solche Geschichten von den unsichtbaren AKW-Arbeitern gehört, in Schweden, England, Belgien, Frankreich. Überall war die Situation dieselbe. Kürzlich beschrieb ein Internetartikel der Zeitung «Le Temps» die Lage in der Schweiz. Auch die Helvetier sind keine Ausnahme von der Regel! Denn im Fall eines nuklearen Unfalls kommen auch da Subunternehmen zum Einsatz wie heute in Japan.

Aus dem Französischen von Peter Burri.

Peter Jaeggi (Hrsg.): Tschernobyl für immer – von Atombombenversuchen im Pazifik bis zum Super-GAU in Fukushima. Lenos Verlag. Basel 2011. 408 Seiten. 34 Franken

«Tschernobyl für immer»

Der Belgier Alain de Halleux (Jahrgang 57) studierte zuerst Nuk­learchemie und liess sich danach zum Filmemacher aus­bilden. Seit Jahren beschäftigt er sich aber weiter mit dem Thema Atomtechnik, 2009 drehte er den Dokumentarfilm «RNS – Alles im Griff?» über Nukleararbeiter in Frankreich und Begien. Der hier abgedruckte Text ist ein gekürzter Beitrag aus dem Buch «Tschernobyl für immer – von Atombombenversuchen im Pazifik bis zum Super-GAU in Fukushima». Das Buch enthält Texte über die Folgen von Tschernobyl, aber auch über die AKW-Debatte in der Schweiz und die Reaktorkatastrophe von Fukushima. Herausgeber und Mitautor des Buches ist der Schweizer Journalist Peter Jaeggi.