Dampfzentrale Bern: Die Mindestüppigkeit

Nr. 7 –

Trafo-Lesungen mit Wilhelm Genazino, Peter Bichsel, Alois Hotschnig und Christian Zehnder.

«Wie ich dich kenne, trinkst du Rotwein, stimmts? fragt Morgenthaler. Ich nicke.» Das ist kein Text von Peter Bichsel, sondern von Wilhelm Genazino, und steht in dessen neuem Roman, der mit «Die Liebesblödigkeit» überschrieben ist. Der gemeinsame Abend von Genazino und Bichsel wird sicher sehr spannend sein. Beide Wortspieler sind sichere Werte und zugleich das Gegenteil von gängigen Literaturstars. Beide weiden sich - jeder auf seine Weise - an so genannten Details des Alltags, an Kleinigkeiten, die im Allgemeinen nicht beachtet werden, und beweisen sich gerade dadurch als durch und durch politische Zeitgenossen.

«Ich wünsche allen Männern zwei Frauen und allen Frauen zwei Männer, wenigstens phasenweise, denn zwei Frauen oder zwei Männer sind die Mindestüppigkeit, mit der wir den Kampf gegen unser armseliges Leben antreten können, ohne uns gleich dem Gesetz der Kargheit auszuliefern.» Das sagt der Icherzähler des neuen Genazino-Romans, der Anfang der fünfzig steht und sich bereits recht heftig mit den Beschwerden des Alters konfrontiert sieht. Er war einmal verheiratet, ist längst geschieden und liebt zwei unterschiedliche Frauen, die Klavierlehrerin Judith und die Chefsekretärin Sandra. Sich selber sieht der unermüdliche Kneipengänger und Umweltbeobachter als «Kassenwart der Lebensangst», er gibt Kurse zum Thema Apokalypse, zum Beispiel in einem Nobelhotel in Interlaken, wo seine mehrheitlich weibliche Klientel eigentlich nur aus Deutschen besteht.

Dieses Apokalypse-Seminar benützt Genazino zu einem fabelhaften Sittengemälde unserer modernen Gesellschaft, und sein Icherzähler hat ein überaus dankbares Publikum, wenn er es mit schlimmsten Zukunftsaussichten eindeckt: «Die Preisgabe der Diskretion im öffentlichen Raum ist eine Vorstufe zum faschistischen Ordnungsdenken, sagte ich mit leicht angehobener Stimme. Die Preisgabe führt dazu, dass Menschen wegen individueller Eigenschaften oder wegen eines abweichenden biografischen Datums öffentlich gekennzeichnet werden können, und sie führt ausserdem dazu, dass die Gekennzeichneten selbst den zwiespältig gefährlichen Charakter ihrer Kennzeichnung nicht durchschauen. Denken Sie an die vielen Behinderten, Homosexuellen, Ausländer und sonstigen Fremden, die sich im Schein der Toleranz outen; sie überschätzen einen kurzen Anerkennungseffekt, den ihnen die Selbstkennzeichnung einbringt, und sie unterschätzen beziehungsweise verkennen die Bedrohung, die langfristig auf sie zukommt.»

Wer vor der Lektüre der «Liebesblödigkeit» ob dem irritierenden Titel den Kopf geschüttelt hat, ist nachher versöhnlicher gestimmt: Wenn der Autor mit seinen Wortschöpfungen auch mitunter haarscharf an der Blödelei vorbeiwandelt, so hält er tapfer seine Linie durch. Allfällige Vorwürfe, er sei ins Pornografische abgerutscht, wenn er es bei bestimmten Szenen nicht mit Andeutungen bewenden lässt, wird er mildherzig lächelnd zurückweisen.

Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebt jetzt nach einer längeren Heidelberg-Zeit wieder in Frankfurt am Main. Letztes Jahr bekam er die höchste literarische Auszeichnung Deutschlands, den Georg-Büchner-Preis. In seinen Büchern schildert er mit unerhörter Präzision und grossem Schalk die westdeutsche Wirklichkeit in ihren unscheinbaren Winkeln. «Ein Regenschirm für diesen Tag» (2001) ist sein wohl schönster Titel, es folgten «Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman», die Essay-Sammlung «Der gedehnte Blick» und nun eben «Die Liebesblödigkeit».

Ich kann mir gut vorstellen, dass sich Genazino und Bichsel gut verstehen, nicht zuletzt sind sie glaubwürdige Nachfahren - nicht Epigonen - von Erzählern wie Jean Paul und Robert Walser. Für Peter Bichsel, der am 24. März 1935 in Luzern zur Welt gekommen ist und seit über einem halben Jahrhundert im Raum Solothurn lebt, haben in den Medien bereits die Ehrungen zu seinem 70. Geburtstag begonnen. Obwohl er für diesen Anlass kein Werk verfasst hat, wird rechtzeitig zum Festtag ein neuer Bichsel aus dem Suhrkamp-Verlag vorliegen: alle seine Kolumnen. Bichsel ist sich nicht zu schade, in der «Schweizer Illustrierten» zu schreiben, ganz im Gegenteil: Auf diese Weise gewinne er halt «neue Leser», sagte er kürzlich am Schweizer Fernsehen, Leute, die seinen Namen bisher noch nie gehört hätten.

Vor gut vier Jahrzehnten ist Bichsels erstes, schmales und rasch legendär gewordenes Buch erschienen: «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen». Auch wenn er - wie in der letzten Ausgabe der «SonntagsZeitung» - für sich in Anspruch nimmt, «ein fauler Mensch» zu sein, auch wenn jedes Buch «mit viel Arbeit verbunden» ist, auch wenn er seit Beginn seines Schaffens der so genannten «kleinen Form» die Treue hält, hat er es doch auf eine imposante Zahl von Titeln gebracht. Seine letzte grössere Erzählung erschien 1999: «Cherubin Hammer und Cherubin Hammer». 2004 wurde er Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Basel.

Immer wieder hat er sich sehr kompetent und eigenständig mit dem Problem unseres Landes und seiner Literatur auseinander gesetzt. «In der deutschen Schweiz existierte in den letzten dreihundert Jahren kein einziger Autor, der sich in der Schweiz allein einen Namen gemacht hätte. Die Deutschschweizer lesen keinen eigenen Autor, bevor er sich nicht im Ausland einen Namen gemacht hätte. Die Schweizer - im nicht zugestandenen Bewusstsein, keine eigene Kultur zu haben - lesen ausschliesslich literarische Importprodukte. » Das lesen wir im Bändchen «Das süsse Gift der Buchstaben», einer Sammlung von sehr anregenden Bichsel-Reden zur Literatur, die letztes Jahr erschienen ist.

Neben Bichsel und Genazino lässt Hans Ruprecht, der Leiter von Trafo: Literatur in Bern, gleichsam als Kontrastprogramm einen jüngeren und einen jungen Autor auftreten: den Österreicher Alois Hotschnig und den Schweizer Christian Zehnder. Der 1959 geborene Hotschnig bekam 2002 den Italo-Svevo-Preis für sein Gesamtwerk. Zehnder wurde 1983 in Bern geboren, ist Slawistikstudent und gehört zu den Mitbegründern des Literatur- und Kunstkonstrukts art. 21. In Bern wird er aus seinem ersten Erzählband lesen.

Peter Bichsel, Wilhelm Genazino, Alois Hotschnig und Christian Zehner in: BERN Dampfzentrale, Sa, 19. Febr, 20.30 h. Infos: www.dampfzentrale.ch