Abhängigkeit im Pflegeheim: Drinnen vor der Tür

Nr. 7 –

Das Leben im Heim ist schwierig. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat dazu aufgefordert, den Alten in den Heimen ihre Selbstbestimmung zurückzugeben. Hat sich etwas geändert?

Jeder alte Mensch wehrt sich innerlich gegen den Eintritt in ein Heim. Kein Wunder, dort erwartet ihn jeden Tag das Gleiche: früh aufstehen, waschen, Morgenessen, Mittagessen um halb zwölf, Cafeteria, um fünf oder sechs ins Bett, weil das Personal Feierabend will. Dazwischen warten, warten, warten.

Kein Heiminsasse wehrt sich dagegen, weil alle wohlgelitten sein wollen und ihre Bedürfnisse zurückschrauben. «Man muss zufrieden sein», antworten die meisten Alten im Pflegeheim, wenn man sie nach ihrem Befinden fragt. Die politische Öffentlichkeit diskutiert die aktive und die passive Sterbehilfe, statt sich zu fragen, warum so viele HeimbewohnerInnen an Suizid denken. Die Angst, im Heim schlecht behandelt zu werden, treibt viele alte Menschen in den Freitod, wie eine Studie des Instituts für Rechtsmedizin der Charité-Universitätsmedizin in Berlin zeigt.

Obwohl der Standard der Heime in der Schweiz als höher denn in Deutschland gilt, müsste man solche Zahlen auch hier zur Kenntnis nehmen. «Wir müssen fundamental in Frage stellen, was in den Heimen geschieht», sagt Annemarie Kesselring vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel. Das gilt nach dem jüngsten «Todespfleger»-Prozess um so mehr.

Neue Richtlinien

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat vergangenen Sommer medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen für die Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen erlassen. Einleitend heisst es: «An vielen Orten ist die Betreuung älterer pflegebedürftiger Patienten heute geprägt von Fremdbestimmung. Es sind Rahmenbedingungen zu schaffen, die es diesen Menschen erlauben, trotz ihrer mannigfaltigen Abhängigkeiten ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.»

Was heisst das konkret? Andreas Stuck, Geriatrie-Chefarzt an der Berner Uni-Klinik, hat die Arbeitsgruppe geleitet, welche die Richtlinien zusammenstellte. Er sieht in der Langzeitpflege vier zentrale Herausforderungen: Die Qualität in der Betreuung müsse auf die Bedürfnisse der alten Menschen abgestützt sein; deren Selbstbestimmung und Würde müssten in den Entscheidungsprozessen mehr Gewicht erhalten; die Heime brauchten ethische Entscheidungshilfen für den Fall, dass einE HeimbewohnerIn mit einer Organisation wie Exit Beihilfe zum Suizid sucht; und freiheitsbeschränkende Massnahmen müssten kontrolliert angewendet werden, weil sie einen Eingriff in die Grundrechte des Menschen darstellen.

Bei den Richtlinien der Akademie handelt es sich um verbindliche Weisungen für ÄrztInnen; auch die Pflegenden und TherapeutInnen sind explizit angesprochen. Die Heime, Spitex und Spitäler, also die Institutionen mit Aufgaben der Langzeitpflege, werden lediglich mit «Empfehlungen» angesprochen. So empfiehlt der Schweizerische Berufsverband für Krankenpflege allen Pflegenden, die Richtlinien anzuwenden und zu achten. Dabei wäre auch dort Verbindlichkeit gefordert, weil die gesetzlichen, organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen einen starken Einfluss auf die Pflegequalität und Selbstbestimmung älterer Menschen haben.

Fähigkeiten erhalten

Andreas Stuck sagt: «Die für die Qualitätssicherung zuständigen Kantone, die einzelnen Institutionen und die Kostenträger, aber auch Universitäten und Ausbildungsstätten sind gefordert, die Empfehlungen weiterzubearbeiten. Hier besteht noch viel Handlungsbedarf.» Die Pflegewissenschaftlerin Annemarie Kesselring bringt es so auf den Punkt: «Wenn die Richtlinien greifen sollen, wird man sich in jedem Heim fragen müssen, ob die Betreuenden die Situation von Frau Müller in ihrem Sinn interpretieren und was allenfalls zu verbessern wäre. Ziel von Pflege und Betreuung muss sein, die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Frau Müller im Heimalltag zu erhalten sowie ihre Anliegen, wo immer möglich, ernst zu nehmen.»

Handlungsbedarf bestände auch bei Curaviva, dem Schweizerischen Heimverband, der seinen Mitgliedern empfehlen müsste, der Selbstbestimmung im Heim mehr Gewicht zu geben. Doch der Direktor von Curaviva, Hansueli Mösle, sagt, er habe von den Empfehlungen der Akademie der Medizinischen Wissenschaften noch nichts gehört, er sei mehr für die Politik und die Pflegefinanzierung zuständig. Markus Leser hingegen, bei Curaviva Leiter Fachbereich Alter und Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie, hat sich intensiv mit den Richtlinien befasst. Doch was geschieht jetzt konkret? «Was die rund 1600 Heime in der Schweiz damit anfangen, ist natürlich offen.»

Der Luzerner Soziologe Hans-Ulrich Kneubühler setzt sich seit Jahren dafür ein, dass das «Normalprogramm» in den Heimen auf die wirklichen Bedürfnisse der Betagten ausgerichtet werde statt auf das Funktionieren einer Institution. Kneubühler zeigt auf, warum das so schwierig ist. In den Heimen gibt es zwei soziale Welten, die sich im Wege stehen: hier die formale Organisation, zweckrational, standardisiert und bürokratisiert, auf Effizienz, Routine und Kontrolle ausgerichtet; dort eine wertrationale, wenig planbare und nicht auf Routine bedachte Lebenswelt, in welcher Beziehung und Kommunikation und das Eingehen auf Bedürfnisse von Menschen gefordert sind. Auch Heimorganisation und Bürokratie stehen der geforderten Autonomie oder Selbstbestimmung im Wege. «Das Recht auf Selbstverfügung steht den HeimbewohnerInnen grundsätzlich im gleichen Ausmass zu wie jedem andern Menschen», sagt Kneubühler. Zum Beispiel: die Einrichtung des Zimmers, die zeitliche Gestaltung des Tagesablaufes, die Körperpflege, Kleidung, essen, fernsehen, einkaufen. Es leuchtet auch dem Soziologen ein, dass ein Heim nicht ohne Strukturen auskommt. «Aber die Bedürfnisse der betagten Bewohner und Bewohnerinnen müssen im Zentrum stehen, die Betreuungs- und Wohnaspekte des Lebens im Heim sind gegenüber den pflegerisch-medizinischen und organisatorischen Elementen zu stärken.»

Keine politische Diskussion

Auch Annemarie Kesselring vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel findet, dass man Alternativen finden müsse: «Die Institution Pflegeheim ist auf das Spitalmodell ausgerichtet, nach dem eine Patientin nach wenigen Tagen wieder nach Hause geht. Das ist für einen Pflegeheimbewohner nicht möglich. Die Tagesstruktur im Heim entspricht weitgehend jener im Spital: aufstehen, waschen, essen, schlafen. Das gibt Einbussen an Selbstbestimmung.» Kesselring sähe als mögliche Alternative das unabhängige Wohnen mit pflegerischer Unterstützung, auch von Laienpersonen. Sie vermisst die politische Diskussion solcher Fragen: «Als reiches Land müssten wir uns fragen, wo wir unser Geld einsetzen. Wollen wir Autobahnen bauen, oder wollen wir dafür sorgen, dass alte, gebrechliche Menschen noch ein Stück Lebensqualität haben?»

Täglich mit Pflege zu tun hat Thomas Wernli. Er leitet seit acht Jahren das Alterszentrum Kehl in Baden, einen anerkannt fortschrittlichen Betrieb, vor allem was die Autonomie der InsassInnen betrifft. «Es ist die Kunst, im Kampf gegen die Institution Heim nicht aufzugeben», sagt Wernli. «Ich muss mich auf die Seite der Bewohnerinnen schlagen und von den Rahmenbedingungen der Institution nicht erdrücken lassen.» Er schätzt es, dass die Wissenschaft Richtlinien erlässt und Empfehlungen gibt, «sonst verlieren wir uns im Alltag. Dann ist das Mittagessen im Heim für alle um halb zwölf. Bis jemand kommt und die Frage stellt, ob das nicht auch anders ginge.» Was einen möglichen Aufbruch in Sachen Autonomie in den Heimen betrifft, ist Thomas Wernli eher skeptisch. «Es gibt kein gemeinsames Anliegen unter den Heimen. Ohne politische Vorgaben der Kantone wird nichts passieren.»